Jahreskonferenz 2019

Nach der Wahl ist vor der Wahl - Die Ukraine und ihre Regionen im neuen politischen Kontext

Kyjiw
21.-22. November 2019

Veranstaltungsort:
D12, Desiatynna Str. 12, 02000 Kyiv

 

Bericht der 15. Jahreskonferenz

Die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen 2019 haben in der Ukraine eine neue politische Wirklichkeit geschaffen. Nach der Erfolgswelle Wolodymyr Selenskyjs und seiner Partei „Diener des Volkes“ sind die Erwartungen der Wähler außergewöhnlich hoch.

Wie spiegeln sich die politischen Veränderungen in den verschiedenen Landesteilen wider? Welche Rolle können die kleineren reformorientierten Parteien und zivilgesellschaftlichen Akteure auf nationaler und lokaler Ebene spielen? Wie bereiten sie sich auf die für 2020 geplanten Kommunalwahlen vor?

Unter dem Thema „Nach der Wahl ist vor der Wahl. Die Ukraine und ihre Regionen im neuen politischen Kontext“ fanden am 21. und 22. November 2019 in Kiew die 15. Kiewer Gespräche statt, während derer gemeinsam mit ukrainischen und internationalen Gästen aus Politik, Zivilgesellschaft, Wissenschaft und Medien diese Fragen diskutiert wurden.

Folgende drei Hauptthemen bildeten den Ausgangspunkt für die Diskussionen:

•   Das Streben nach schnellen Reformen, das Präsident Selenskyj, die Werchowna Rada, in der die Fraktion der Präsidentenpartei „Diener des Volkes“ über die absolute Mehrheit verfügt und ohne die Stimmen der anderen Parteien beschlussfähig ist, sowie die „technokratische“, vom Präsidenten vollständig kontrollierte Regierung demonstrieren. Die Geschwindigkeit und die Qualität dieser Reformen sowie die Auswirkungen dieser Prozesse auf das Leben in den Regionen waren ein zentrales Thema der Konferenz.

•   Die Dezentralisierung und die Vorbereitung auf die Kommunalwahlen. Während man bislang damit rechnete, dass die Kommunalwahlen vorfristig im Frühjahr oder Sommer 2020 durchgeführt werden würden, erklärten die Konferenzteilnehmer der Partei „Diener des Volkes“, die Wahlen würden nach Abschluss der Dezentralisierung stattfinden und aller Voraussicht nach wie ursprünglich geplant, also im Oktober 2020, abgehalten. Die Teilnehmer bewegte insbesondere die Frage, welche Rolle die kleineren reformorientierten Parteien sowie die zivilgesellschaftlichen Akteure auf nationaler und lokaler Ebene spielen werden.

•   Mögliche Vereinbarungen für einen Frieden im Donbass (was ein, wenn nicht das wichtigste Wahlversprechen von Selenskyj war) auf dem Gipfeltreffen der Ukraine, Russlands, Deutschlands und Frankreichs (Normandie-Format) am 9. Dezember 2019 in Paris. Das letzte Gipfeltreffen in diesem Format hatte im Oktober 2016 in Berlin stattgefunden, und das Näherrücken des Ereignisses und die lebhaften Diskussionen in der Ukraine darüber, um welchen Preis ein Friedensschluss möglich wäre, waren für die Konferenzteilnehmer natürlich von Interesse.

Welchen Herausforderungen sieht sich die Ukraine heute in einem globalen politischen Kontext gegenüber?

Rebecca Harms, die von 2004 bis 2019 für die Grünen/Europäische Freie Allianz im Europaparlament saß und seit vielen Jahren Schirmherrin der Kiewer Gespräche ist, brachte in ihrem Eröffnungsvortrag die Überzeugung zum Ausdruck, dass die Ukraine auf internationaler Ebene Unterstützung durch ein wirksames deutsch-französisches Tandem erhalten müsse, das auf der Umsetzung aller Punkte des Minsker Abkommens bestehen sollte, wozu die Beendigung der militärischen Handlungen, der Abzug der ausländischen Kampfeinheiten aus der Konfliktzone und Wiedererlangung der Kontrolle über die Grenze zu Russland seitens der Ukraine gehören. Die Europäische Union müsse geschlossen an den Sanktionen gegenüber Russland festhalten und im Rahmen der NATO eine einheitliche Position vertreten.

Viola vom Cramon, Europaabgeordnete der Grünen/Europäische Freie Allianz, sagte, dass die Ukraine im Europaparlament von einer Mehrheit der Abgeordneten unterstützt werde. Dennoch zeigte sie sich beunruhigt über die Entwicklung in einigen EU-Ländern, die die europäischen Werte und die Einheit gefährden, was es erschweren könne, die Sanktionen gegenüber Russland auf längere Sicht aufrechtzuerhalten. Außerdem wies sie auf den starken Einfluss hin, den Russland auf die Entwicklungen in der EU ausübt, denn nicht nur in den populistischen Parteien, sondern auch in  der deutschen Regierung werden pro-putinsche Ansichten vertreten.

Welchen Aufgaben und Herausforderungen sieht sich die neue ukrainische Staatsmacht bei der Umsetzung von Reformen gegenüber?

Die Referenten der ersten beiden Podien waren sich einig, dass die vordringlichsten Aufgaben darin bestehen, den Anti-Korruptionskampf zu verstärken, die Macht der Oligarchen zu beschränken, den Rechtsstaat zu stützen und unabhängige Gerichte zu schaffen. Julia Mostowa, Chefredakteurin der renommierten Wochenzeitschrift „Dzerkalo Tyzhnja“, sagte, dass die Oligarchen, die eine Zeitlang in den Hintergrund getreten waren, nunmehr zu einem Gegenangriff übergingen. Bislang habe es noch keine ukrainische Regierung geschafft, die Macht der Oligarchen einzudämmen. Jaroslaw Jurtschyschyn, Abgeordneter der Werchowna Rada für die Partei „Holos“, merkte an, dass fehlende personelle Ressourcen ein ernsthaftes Hindernis für die Reformierung des Gerichtswesens darstellen. Witalij Bezhin, Abgeordneter der Werchowna Rada für die Partei „Diener des Volkes“, brachte seine Überzeugung zum Ausdruck, dass Rechtssicherheit die wichtigste Bedingung für die Einwerbung ausländischer Investitionen darstelle.

Mehrere Referenten betonten die Dringlichkeit der Schaffung einer wirksamen parlamentarischen Kontrolle, insbesondere deshalb, weil die Regierenden Beschlüsse im Eilverfahren fassen („Turboregime“), wobei häufig keine ausreichenden Debatten stattfinden und parlamentarische Regeln verletzt werden. Marieluise Beck, Mitbegründerin des Zentrums für Liberale Moderne in Berlin und frühere Bundestagsabgeordnete der Grünen, warnte die neuen Machthaber vor der Missachtung der parlamentarischen Regeln, da sie Machtmissbrauch verhindern helfen. Sie bezog sich auf die Erfahrung der Grünen in der Bundesrepublik Anfang der 1980er Jahre, die zu jener Zeit über keine ausreichende Zahl an Mandaten verfügten, um Beschlüsse zu beeinflussen, wohl aber die Mechanismen der parlamentarischen Kontrolle nutzen konnten, um Debatten über Fragen, die sie für wichtig hielten, zu initiieren. Unter solchen Umständen kann ein von einer Minderheit eingebrachtes Thema mit der Zeit zu einem Thema der Mehrheit werden, worin die eigentliche Funktion der Demokratie besteht.

Zu den Herausforderungen, vor denen Präsident Selenskyj steht, zählte Julia Mostowa die Qualität seines engeren Kreises an Mitarbeitern, die den aktuellen Herausforderungen nicht gewachsen sind. Mostowa ist der Ansicht, Selenskyj müsse hier beginnen strategisch zu denken und im ersten Quartal des kommenden Jahres das eigene Vorgehen und den Mitarbeiterstab qualitativ verbessern, da er anderenfalls seine wichtigste Ressource – die große Unterstützung der Wählerschaft – zu verlieren droht.

Ist die neue Macht wirklich „neu“?

Die Experten waren sich einig, dass, obwohl sich die Partei „Diener des Volkes“ als eine nicht dem System verhaftete Kraft positioniere und politische Neulinge ins Parlament gebracht habe, die Arbeitsmethoden keine neue Qualität aufweisen.

So verwies Wilfried Jilge, Osteuropaexperte der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, darauf, dass Selenskyj ebenfalls ein Produkt des Systems und mit Hilfe der von Oligarchen dominierten Massenmedien an die Macht gelangt sei. Grundsätzlich misst Selenskyj Personen eine zentrale Bedeutung bei, während er die Institutionen und das parlamentarische System für nachrangig hält, was ebenfalls von altem Denken zeugt.

Viola von Cramon brachte ihre Verwunderung darüber zum Ausdruck, dass keine Partei in der Ukraine alternative Energie und Umweltschutz in ihrem Wahlprogramm verankert habe. Ihrer Meinung nach gehörten eine liberale Politik, wie sie von der Partei „Diener des Volkes“ angeblich vertreten wird, und Ökologie untrennbar zusammen, sie hofft darauf, dass diese Themen im Reformprozess auf die Tagesordnung kommen.

Olexij Haran, Forschungsdirektor der Democratic Initiatives Foundation und Professor an der Kiewer Mohyla-Akademie, führte aus, dass in all den Jahren seit der Staatsgründung 1991 das Ringen um Souveränität und Demokratie die beiden wesentlichen Herausforderungen für das Land gewesen seien, weswegen es keine Parteien im westlichen ideologischen Sinne geben könne, da die beiden Bereiche sehr breit seien.

Wie realistisch ist ein Frieden im Donbass?

Mehrere Referenten zollten der vorherigen Regierung Respekt für ihre Leistungen bei der umfassenden Reformierung der Armee und der Sicherung ihrer Kampfbereitschaft unter Kriegsbedingungen.

Wenngleich u.a. Selenskyjs Zustimmung zur Steinmeier-Formel und der vereinzelte Abzug von Truppen aus einigen Einheiten gesellschaftliche Spannungen ausgelöst hat, sind sich nach den Worten von Jaroslaw Jurtschyschyn 80 % der Abgeordneten einig, dass die Erarbeitung eines Reintegrationsplans für die besetzten Gebiete und die Aufrechterhaltung der internationalen Koalition zu den vordringlichen Aufgaben zählen.

Nach Ansicht von Vitalij Beshin und Jelisaweta Jasko, die der Partei „Diener des Volkes“ angehören, ist allein die Übereinkunft zur Durchführung des Gipfeltreffens im Normandie-Format am 9. Dezember in Paris bereits ein Erfolg für Selenskyj, der Truppenabzug ist ein Entgegenkommen gegenüber den Menschen, die unmittelbar an der Konfliktlinie leben.

Alle Konferenzteilnehmer waren sich einig, dass nach dem Ende der Kampfhandlungen noch viel passieren muss, ehe sichere Wahlen nach ukrainischem Recht abgehalten werden können. Derzeit sieht es allerdings nicht so aus, als würde Russland der Ukraine die Kontrolle über ihre Grenze überlassen. Außerdem waren sich die Experten einig, dass die Ukraine einen Plan B brauche für den Fall, dass das Gipfeltreffen im Normandie-Format ergebnislos endet.

Die Krim-Frage wurde auf der Konferenz nicht diskutiert, Wilfried Jilge merkte jedoch berechtigterweise an, dass für die Krim ein effektives internationales Format benötigt werde, um die Einhaltung der Menschenrechte zu kontrollieren und zu verhindern, dass Russland weiterhin Geiseln nehmen kann.

Die Bedeutung der Kiewer Gespräche für die Entwicklung der Kommunen

Da es die Jubiläumsausgabe der Kiewer Gespräche war, betonten die Referenten die wichtige Rolle, die dieses Projekt für die Entwicklung der Kommunen in der Ukraine hat, und zollten der Arbeit großen Respekt. Olexandr Sushko, Geschäftsführer der International Renaissance Foundation, sagte, die Kiewer Gespräche hätten schon jetzt Eingang in die Geschichte der Zivilgesellschaften Deutschlands und der Ukraine gefunden.

Seiner Meinung nach haben die Kiewer Gespräche in der Unterstützung der Entwicklung der Kommunen und in der Arbeit mit Menschen auf lokaler Ebene ein Alleinstellungsmerkmal innerhalb der Förderer, die in der Ukraine aktiv sind. In diesem Zusammenhang dankte Julia Mostowa den Kiewer Gesprächen für die geleistete Unterstützung und die Belebung der „Kapillaren der ukrainischen Gesellschaft“ (sie sprach tatsächlich von Kapillaren und nicht von Adern) sowie dafür, dass es die Kiewer Gespräche „nicht zulassen, dass Bürger zu bloßen Einwohnern werden.“ Ihrer Meinung nach leidet die ukrainische Gesellschaft an ihren Zellen, es fehlen die Bürger. Die Gesellschaft braucht das bürgerliche Subjekt wie die Luft zum Atmen - so Mostowa - sie muss sich hohe Ziele stecken und zusammenwachsen, die Kiewer Gespräche fördern genau diesen Prozess. Stefanie Schiffer, Geschäftsführerin des Europäischen Austauschs, zu dessen Projekten auch die Kiewer Gespräche gehören, sagte, die Kiewer Gespräche feierten im Jahr 2019 ihr 15-jähriges Jubiläum und hätten sich von einer Jahreskonferenz als wichtigstem Format hin zur aktiven Unterstützung bürgerschaftlichen Engagements auf lokaler Ebene entwickelt. Der erste Konferenztag fiel mit dem 15. Jahrestag der Orangen Revolution sowie dem 6. Jahrestag des Beginns der Revolution der Würde zusammen.

In diesem Zusammenhang wurde auf zwei Erfolgsgeschichten der Kiewer Gespräche verwiesen. Bei der ersten handelt es sich um die Schaffung und Gestaltung von öffentlichem Raum für Bürger in Drohobytsch (Gebiet Lwiw) in Form von drei kleinen Parks. Diesem Projekt ist es zu verdanken, dass der Begriff des öffentlichen Raums für Bürger Eingang in die Statuten der Stadt gefunden hat. Die Entwicklung des Projekts kann man auf Facebook verfolgen. 

Beim zweiten Beispiel handelt es sich um das Projekt „Khata-Hub“ in Tschyhyryn (Gebiet Poltawa), einen offenen Treffort. Innerhalb eines Jahres, nachdem der Treff gegründet worden war, der sich in der Wohnung der Initiatorin befand, entwickelte das Projekt zahlreiche Aktivitäten, durch die Strategie zur Entwicklung einer Vereinigten Territorialgemeinde besteht die Hoffnung auf eine Finanzierung aus dem kommunalen Haushalt. Weitere Informationen über das Projekt sind hier zu finden.

Was ist von den Kommunalwahlen 2020 zu erwarten?

Die Diskussion hat gezeigt, dass die Lage von Stadt zu Stadt und von Gemeinde zu Gemeinde unterschiedlich ist. Während die Bürger in einigen Orten dank der Dezentralisierung inzwischen über reale Hebel zur Einflussnahme auf die kommunalen Selbstverwaltungsorgane verfügen, erweist es sich in anderen Orten, in denen die Machtposition der Oligarchen unerschüttert ist, als überaus schwierig, Freiraum für die Einbindung neuer politischer Akteure zu schaffen.

Nach Ansicht von Roman Lozynskyj, Abgeordneter der Werchowna Rada für die Partei „Holos“, und Witalij Zahajnych, Geschäftsführer der NGO ZEGRIN aus Lwiw, hat die Entwicklung der letzten fünf Jahre dazu geführt, dass dank der Erarbeitung von Instrumenten für die Demokratie auf der lokalen Ebene eine neue politische Elite entstanden ist, die in der kommenden Wahl gute Chancen hat und den Kommunalparlamenten eine neue Qualität verleiht. Es werden nicht nationale Politikgrößen gewinnen, sondern lokale Politiker, die den Menschen vor Ort die Vision einer Bürgergesellschaft präsentieren und vermitteln können.

Vollkommen anders sieht die Situation indessen z.B. in Mariupol aus. Maxym Borodin, Stadtrat in Mariupol (Gebiet Donezk), der die Partei „Syla Ljudej“ vertritt und zugleich ein bekannter Umweltaktivist ist, äußerte sich auffallend pessimistisch zu den bevorstehenden Kommunalwahlen. So standen beispielsweise der Partei „Syla Ljudej“ – ausschließlich dank Spenden – im letzten Wahlkampf 100.000 Hrywnia zur Verfügung, während der Oligarch Rinat Achmetow, dem zwei Metallurgiewerke in der Stadt gehören, über Gelder in Höhe von fünf Millionen Hrywnia verfügte sowie die lokalen Medien kontrollierte. Wenngleich die Wahlen an sich fair verliefen, war der Wahlkampf höchst ungleich. Im Moment spricht alles dafür, dass in der anstehenden Wahl die derzeitigen Machthaber den Sieg davontragen. Obwohl die Vertreter der Partei „Syla ljudej“ trotz ihrer geringen Zahl von Stadtratsmandaten das offenste Verfahren für Stadtratssitzungen in der Stadtrat von Mariupol durchsetzen konnten (die Einwohner können den Stadtratssitzungen beiwohnen und Fragen stellen) und den kommunalen Haushalt vor Korruption geschützt haben, honorieren die meisten Einwohner das nicht oder rechnen es den amtierenden Machthabern zu.

Um die Chancengleichheit für alle Kandidaten im Wahlkampf zu gewährleisten – darin waren sich alle Vertreter auf dem Podium einig –, sollte Wahlwerbung im Fernsehen verboten werden, zugelassen werden sollten lediglich Debatten, oder aber sollte Wahlwerbung nur noch offline erfolgen, zudem empfahl man die Einführung einer staatlichen Parteienfinanzierung auf lokaler Ebene. Eine andere dringende Frage für alle Gemeinden ist die der Bezahlung der Abgeordneten in den lokalen Selbstverwaltungsorganen. Da die Arbeit ehrenamtlich erfolgt, aber viel Zeit und Einsatz erfordert, sollte die Einrichtung eines Vergütungsfonds aus dem kommunalen Haushalt in Erwägung gezogen werden.

Interessant war für die Diskussionsteilnehmer die Erfahrung der FDP in Nordrhein-Westfalen. Regina Boos, Stadträtin in Oberhausen, sagte, ihre Partei mache Straßenwahlkampf, und auf Beschlüsse müsse man nicht zwingend über Abstimmungen Einfluss nehmen (wenn eine Partei nur über wenige Sitze im Stadtrat verfügt), sondern könne auch über die Initiierung von parlamentarischen Debatten etwas bewegen. Auch sie sprach von einem achtstündigen Arbeitstag, der nur durch eine symbolische Bezahlung honoriert wird.

Zeugt die Erfahrung der zivilgesellschaftlichen Akteure, die jetzt Politiker sind, davon, dass Politik anders werden kann?

Die jungen Stadträte aus Bilhorod-Dnistrowskyj (Gebiet Odessa), Krywyj Rih und Kamjanske (Gebiet Dipropetrowsk), Melitopol (Gebiet Zaporizhzhja) und Uzhhorog (Zakarpatien), die sich vor ihrem Wechsel in die Politik als zivilgesellschaftliche Akteure betätigt hatten, bestätigten, dass Politik nicht unbedingt schmutzig sein müsse, was allerdings einen zähen Kampf aus einer Minderheitenposition heraus und die Inkaufnahme von Risiken erfordere. Viele der Newcomer berichteten von Einschüchterungsversuchen, von Manipulationen von Personen aus dem engeren Umfeld, Bestechungsversuchen und tätlichen Angriffen in der einen oder anderen Form. Wenn es jedoch gelingt zu widerstehen und die öffentliche Aufmerksamkeit auf die Arbeit des Stadtrats zu lenken, kann man Beschlüsse zugunsten der Stadtgesellschaft durchsetzen und Präzedenzfälle für eine qualitativ neuartige Politik schaffen.

Wer kann etwas tun und was sollte getan werden, damit die Städte in der Ukraine lebenswert werden?

Diese Fragestellung wurde im Fishbowl-Format bearbeitet. Die Diskussionsteilnehmer sprachen eine Reihe von Fragen an, etwa das Fehlen professioneller Verwaltungsmitarbeiter auf lokaler Ebene und die Passivität eines großen Teils der Bewohner (Phänomen einer postsozialistischen Gesellschaft), die die engen Grenzen ihrer Wohnungen nicht verlassen und die Stadtentwicklungsprozesse nicht mitgestalten möchten.

Der Beteiligungsprozess, im Rahmen dessen alle Personen, ganz gleich über welche Ressourcen sie verfügen, einen Beitrag zur Planung der Stadtentwicklung leisten können, sowie die richtigen Kommunikationsformate – von der Stadt in Richtung Bevölkerung, aber auch innerhalb der Stadtgemeinschaft mit ihren verschiedenen Interessensgruppen – wurden als wichtigste Erfolgsvoraussetzungen identifiziert. Wenn die Stadt, die Bürger und die Wirtschaft kooperieren, kann das positive Ergebnisse haben.

Ein Teil der Diskussion betraf die Rolle von Investitionen für die Stadtentwicklung. Die meisten Teilnehmer waren sich einig, dass die Stadt im Austausch mit den Bürgern wichtige langfristige Ziele identifizieren und transparente Spielregeln festlegen sollte, die in ihrer Gesamtheit Gestaltungsspielraum für Investoren schaffen.

Was ist Smart City und welchen Mehrwert bietet der Ansatz?

Die Teilnehmer dieser Arbeitsgruppe stimmten darin überein, dass „Smart city“  nur ein Instrument für die Interaktion zwischen Stadt und Bürgern ist, um das Regieren entsprechend zu gestalten. Jedoch, dank den Instrumenten von „Smart city“ kann sich Vertrauen zwischen der Stadt und den Bürgern und auch zwischen den Bürgern untereinander entfalten. Sie werden Entwicklungspartner, es entsteht soziales Kapital.

Die Teilnehmer der Diskussion, die Erfahrungen bei der Einführung des Konzepts der „Smart city“ in ihren jeweiligen Orten austauschten, sprachen von einem großen anfänglichen Widerstand, von kursierenden Mythen und der Notwendigkeit einer umfangreichen Aufklärungsarbeit, um die Stadt und die Bürger vom Einsatz der neuen Interaktionsmethoden zu überzeugen. Die Teilnehmer waren sich ebenfalls einig, dass mit SMART sämtliche Verwaltungsvorgänge papierlos abgewickelt werden können, allerdings müsse die Einführung schrittweise erfolgen und eine Übergangsphase beinhalten. Man sollte Anreize für die Bürger schaffen, indem man z.B. elektronische Bescheinigungen kostenlos ausstellt, während für Bescheinigungen in Papierform eine Gebühr erhoben wird.

Darüber hinaus ging es um den Schutz personenbezogener Daten und die Forderung, der Staat müsse Leitlinien für die Datensicherheit formulieren und Sanktionen für die Nutzung bzw. den Missbrauch von Daten festlegen.

Die nächste Jahreskonferenz der Kiewer Gespräche findet 2020 in Deutschland statt. Über die thematische Ausrichtung wird noch beraten, auf jeden Fall wird sie Bezug nehmen auf die gesellschaftspolitische Situation in der Ukraine im europäischen Kontext sowie auf allgemeine Fragen der Zivilgesellschaft.

Bericht von Iryna Solonenko

Aus dem Ukrainischen von Claudia Dathe