Die Dezentralisierungsreform gilt als eine der wichtigsten für die Ukraine. Seit 2014 läuft ein Prozess, in dem Gemeinden umgebaut und fusioniert werden. Nun werden sie nicht mehr aus Kyjiw, sondern direkt aus ihren Steuergeldern finanziert. So soll die lokale Selbstverwaltung gestärkt werden. Unser Steuerungsgruppenmitglied Iryna Solonenko sprach mit Georg Milbradt (CDU), dem Sondergesandten der deutschen Bundesregierung für die Dezentralisierungsreform, über seine Einschätzung der Erfolge dieser Reform.
Am 3. November um 10:35 (MEZ) wird Georg Milbradt einen zehnminütigen Impulsvortrag im Rahmen unserer Jahreskonferenz halten: „Nach den Lokalwahlen – neue Herausforderungen für das Gelingen der Dezentralisierungsreform in der Ukraine“. In einem Livestream auf der Startseite dieser Webseite und auf Facebook Live: bit.ly/37ELB6Z
Halten Sie die Dezentralisierungsreform für erfolgreich, deren Ziel es war, mehr Kompetenzen und finanzielle Ressourcen an die lokale Ebene zu übertragen?
Offensichtlich ist die Dezentralisierungsreform sehr wichtig, weil die Menschen gesehen haben, dass es eine neue politische Ebene gibt, die eigenständige Bedeutung hat und nicht nur von Kyjiw abhängig ist. Dabei zeigt sich deutlich, dass mit der Übertragung von Finanzen und Befugnissen auf die lokale Ebene insbesondere die Bürgermeister selbstständiger werden und ein eigenes Profil bekommen. Ihre Entscheidungen haben Auswirkungen auf das tägliche Leben. Die Menschen merken das und begreifen, dass es nicht völlig egal ist, wer gewählt wird. Ich glaube, dass der Einfluss und die Bedeutung der kommunalen Ebene zunehmen wird, weil eine neue politische Klasse von Bürgermeistern und Mitgliedern der lokalen Räte entsteht.
Die Dezentralisierungsreform ist aus Sicht der Bürger populär und erfolgreich, weil sie nicht nur mehr Geld für die lokale Ebene gebracht, sondern es auch dem Bürgermeister und den Kommunen ermöglicht hat, das Geld mehr im Interesse der Bürger auszugeben. Wenn man durch die Dörfer geht, merkt man, dass viele Bürgermeister ihre Gemeinden vorangebracht haben. Dies ist für den ländlichen Raum besonders wichtig, denn wenn man dort keine Entwicklungsmöglichkeiten bietet, kommt es zur weiteren Landflucht. Diese Art von Binnenmigration verursacht bereits Nachteile und benötigt mehr Aufmerksamkeit.
Welche Risiken sehen Sie für die fast abgeschlossene Dezentralisierungsreform?
Die Dezentralisierungsreform ist noch nicht abgeschlossen und könnte theoretisch noch zurückgedreht werden. Es gab bereits den Versuch, die 60 Prozent Einkommensteuer, die die fusionierten Gemeinden und die Städte mit Oblast-Bedeutung erhalten hatten, abzuschaffen oder zu reduzieren. Außerdem gibt es ungelöste Probleme mit der Aufsicht über die Lokalebene: Mit der Verfassungsreform über die Generalstaatsanwaltschaft wurde die alte Rechtsaufsicht aufgehoben, ohne dass eine Alternative für die Lokalebene geschaffen wurde, weil die weitere Verfassungsänderung über die Dezentralisierung damals scheiterte. Poroschenko hatte die Idee, wie in Frankreich die Institution des Präfekten einzuführen, aber dazu kam es nicht mehr. Die Rechtsaufsicht sollte aber nicht zu sehr politisiert und Fachleuten anvertraut werden.
Ein weiteres Element der Reform zielt darauf ab, die Anzahl der Rajons (Bezirke, Anm. der Kyjiwer Gespräche) und der Kommunen zu reduzieren (Anm. der KG: Im Juni fasste die Werchowna Rada den Beschluss, 136 neue Rayons zu bilden, in die auch die Städte mit Oblastbedeutung eingegliedert werden, anstelle der bisherigen 490 Rayons. Gleichzeitig wurde die Anzahl der Gemeinden von 11.794 auf 1.469 reduziert. Die Umsetzung dieses Beschlusses soll nach den Kommunalwahlen stattfinden). Damit hat man auch die Sonderstellung der Städte mit Oblast Bedeutung abgeschafft, so dass zum Beispiel eine Stadt wie Charkiw, die früher allein der Oblast unterstand, jetzt in einen Großrajon integriert ist. Die Straffung der territorialen Struktur ist richtig. Allerdings wird die Rolle der Großrajone noch diskutiert. Eine endgültige Entscheidung kann erst eine weitere Verfassungsänderungen bringen.
Die Dezentralisierungreform ist allerdings mehr als eine territoriale Neuorganisation. Das ist eine eher technische Angelegenheit, aber die Voraussetzung für leistungsfähige Kommunalverwaltungen. Eine weitere Stärkung der kommunalen Selbstverwaltung muss noch folgen.
Hat man durch die Dezentralisierung den öffentlichen Dienst und die Verwaltung näher an die Bürgerinnen und Bürger gebracht?
Hier ist noch Luft nach oben. Es ist richtig, die Bürgermeister und Räte zu stärken, auf der anderen Seite sollte auch mehr Transparenz geschaffen werden, um den Bürgern mehr Informationen über kommunale Entscheidungen zu verschaffen, und nicht nur auf die Rechtsaufsicht von oben durch Präfekte zu vertrauen. Die Bürgerschaft – und nicht der Präsident – sollte darüber entscheiden, ob die Bürgermeister und Gemeinderäte eine richtige Politik machen. Der Präsident oder die Regierung sollen nur dafür sorgen, dass sich die Gemeinden und ihre Organe an das geltende Recht halten. Jedoch braucht man auch bessere interne Verfahren, um Vetternwirtschaft, Korruption und Selbstbereicherung wirksam zu bekämpfen.
Auf lokaler Ebene ist eine Einflussnahme viel einfacher für die Bürger als auf nationaler Ebene. Dort kann Einfluss eigentlich nur über Wahlen oder Volksabstimmungen geltend gemacht werden. Das Gewicht des Einzelnen ist gering. Auf Gemeindeebene kann man Demokratie viel intensiver praktizieren und vor allem lernen, wie Demokratie funktioniert. Die Stärkung der lokalen Ebene ist wichtig für den gesamten Reformprozess in der Ukraine. Für mich ist die Dezentralisierung eine strategische Reform, die die Bürgerschaft mit dem Staat verbindet und ihn stärkt. Außerdem ist diese Reform ein Gegenmodel zu Putins Russland. Ein Erfolg der Dezentralisierung in der Ukraine wird langfristig auch Russland verändern.
Dieses Interview wurde am 16.10.2020 geführt.
Georg Milbradt war Ministerpräsident des Freistaates Sachsen (2002–2008), Finanzminister (1990–2001 und Abgeordneter des Sächsischen Landtags (1994–2009). Er ist Professor für Volkswirtschaftslehre insbesondere Finanzpolitik an der Technischen Universität Dresden. In seiner politischen Karriere war er unter anderem Mitglied im Stadtrat von Münster und Mitglied des Bundesvorstandes und des Präsidiums der CDU. Seine Expertise liegt im Bereich der Finanzpolitik. Seit seinem Ausscheiden aus der Landespolitik agiert er als Schlichter für Tarifverhandlungen im öffentlichen Dienst. 2017 ernannte die deutsche Bundesregierung Milbradt zum „Sondergesandten für die ukrainische Reformagenda in den Bereichen gute Regierungsführung, Dezentralisierung und öffentliche Verwaltung“. In dieser Funktion setzt sich Milbradt für die Schaffung einer kommunalen Selbstverwaltung in der Ukraine nach europäischem Vorbild ein.
Iryna Solonenko ist Steuerungsgruppenmitglied der Kyjiwer Gespräche und Associate Fellow am Robert Bosch-Zentrum für Mittel- und Osteuropa, Russland und Zentralasien der DGAP. Ihre Forschungsgebiete sind die Europäische Nachbarschaftspolitik und die Östliche Partnerschaft sowie die postsowjetischen Volkswirtschaften, insbesondere die Verbindung zwischen politischer Macht und oligarchischer Kontrolle, sowie die Entwicklung der Zivilgesellschaft. Solonenko forscht auch an der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder) an einem Forschungsprojekt zu Beziehungen zwischen Staat und Wirtschaft in Hybridregimen, mit besonderem Fokus auf der politischen Rolle ukrainischer Oligarchen. Von 2000 bis 2012 war sie Leiterin des Europa-Programms der Open Society Foundations sowie Projektmanagerin am EastWest Institute in Kyjiw. Solonenko studierte Internationale Beziehungen, Europastudien, Verwaltungswissenschaften und Geschichte an der Birmingham Universität, der Central European University in Budapest, der National Academy of Public Administration in Kyjiw und an der Nationalen Universität Kyjiw-Mohyla-Akademie.