Indi und Nata, wie sich Indira und Natalia selbst nennen, stammen aus der Donetschyna. Den Begriff "Donbas" lehnen sie ab. Indi kommt aus Mariupol, Natas Heimat ist Donezk und Torezk. Nach Beginn der russischen Vollinvasion mussten die beiden ihr Zuhause verlassen. Jetzt leben sie in Kyjiw und möchten mit ihrem Projekt "KRYLATY" (Etwa: "Die Beflügelten") ihre Heimat Donetschyna in der ganzen Ukraine bekannter machen.
Alles begann im März letzten Jahres. Indie fuhr mit ihren Eltern von Mariupol nach Bulgarien. Sie litt sehr darunter, was ihrer Heimat widerfuhr und drückte ihre Emotionen mit einer Zeichnung aus: "In Mariupol hatten stand ein bekanntes Haus mit Turm in der Innenstadt. Ich habe gemalt, wie es brennt. Ich sah ein anderes Gebäude brennen, als wir Mariupol verließen. Das Gefühl, wenn es irgendwo brennt und du verstehst, dass dort Menschen sein könnten... Ich habe das gemalt und geschrieben, dass wir standhalten werden. Denn über dem Asowschen Meer geht die Sonne auf".
Indie veröffentlichte die Zeichnung auf ihrem Instagram-Account, wo Nata es sah:
"Ich war absolut begeistert. Es war so stark, zumindest in dem Moment. Tatsächlich ist diese Postkarte eine meiner Lieblingskarten. Ich schrieb Indi: 'Lass mich dir helfen, sie hier zu verkaufen und alle Einnahmen gehen an die Jungs von AZOV'."
Bald darauf entwickelten die beiden zehn Kartendesigns - jeweils fünf Stück. Alle wurden an einem Tag verkauft.
"Wir hatten so ein tolles Konzept, dass Nata mir Texte gibt und ich sie einfach zeichne. So fing unsere Teamarbeit an", erzählt Indi.
Seitdem ist mehr als ein Jahr vergangen. Und jetzt steht Krylaty nicht nur für Postkarten, sondern auch für Kunst- und Kulturveranstaltungen. Es begann, wie Nata sagt, mit Missverständnissen an den Kontrollpunkten: "Wir haben Donezk-Pässe und wenn die Leute die Region Donezk sehen, reagieren leider nicht alle angemessen. Das trifft mich ganz persönlich, denn ich bin seit 2014 in der Bürgerbewegung aktiv. Ich habe schon an pro-ukrainischen Kundgebungen teilgenommen, als ich noch ein Kind war. Und ich weiß, was es bedeutet, für die Ukraine zu kämpfen. Jedes Mal muss man beweisen, dass man Ukrainerin ist, dass man in seinem eigenen Land leben will. Es tut sehr weh, wenn man nach Kyjiw kommt und an einem Kontrollpunkt ein Vertreter deines eigenen Staates sagt, dass die Region Donezk schlecht sei, weil wir alle pro-russisch seien. Denn das sind wir nicht. Es gab einen Moment, als ich Indira eine Sprachnachricht geschickt habe, dass ich nach Polen umziehen möchte. Ich sah keinen Sinn darin, für eine Ukraine zu kämpfen, in der mein Zuhause nicht erwünscht ist. Indira sagte mir: ‚Versuche es den Menschen zu erklären, vielleicht wissen sie es einfach nicht‘".
Schnell entstand die Idee für die erste Veranstaltung in Kyjiw unter dem Titel „Ohne Grenzen“. Es handelte sich um einen kurzen Ausflug in die Geschichte der Region Donezk, wie sich die Region schon immer mit der Ukraine verbunden fühlte. Doch jedes Mal, wenn Versuche unternommen wurden, die ukrainische Identität zu stärken, war Russland zur Stelle, um jegliche Initiative zu unterdrücken.
Das zweite Event dieser Art fand in der Region Lwiw statt. Und, wie Indi und Nata sagen, geht es bei Krylaty um den Dialog zwischen dem Osten und dem Westen des Landes.
„Viele Einwohner*innen von Lwiw kommen zu uns, hören zu und sprechen über ihre eigenen Erfahrungen. Das macht uns persönlich stolz. Es hilft, ein Gleichgewicht zu finden und zu koexistieren, Berührungspunkte zu finden und sich in eine gemeinsame Richtung weiterzuentwickeln“.
Oft fragen sie sich selbst, woher die Motivation kommt, das Projekt zu entwickeln. Indi sagt: „Eigentlich gibt es darauf nur eine Antwort. Ich will nicht, dass mein Zuhause zu einer Art Pufferzone wird. Ich will nicht, dass es eine Ausschlusszone ist oder so. Es hat seine eigene Kultur“.
Ein wichtiger Bestandteil der Bildungsarbeit von Krylaty ist die Entlarvung von Mythen über Donezk und seine Bewohner*innen. Insbesondere sprechen die Mädchen über die pro-ukrainische Bewegung, Kultur und Sprache.
Mythos Nr. 1: Es gibt keine ukrainische Sprache im Gebiet Donezk.
„In unseren Dörfern wird Ukrainisch gesprochen. Ja, die Städte und Gemeinden sind russifiziert, das stimmt. Die große Mehrheit der Menschen spricht Russisch. Andererseits können wir auch nicht für alle sprechen“.
Mythos Nr. 2: Alle haben die Russländische Föderation im Jahr 2014 unterstützt.
„Eigentlich war es eine Minderheit. Wir hatten pro-ukrainische Kundgebungen, und sofort begannen Leute zivilgesellschaftliche Organisationen zu gründen, vor allem nach der Befreiung der Städte. Wir haben uns für die Ukraine entschieden, nur wollte sie uns manchmal nicht wirklich hören“.
Mythos Nr. 3: Menschen aus der Region Donetschyna sind ungebildet
Nata sagt: „Ich höre tatsächlich sehr oft in meine Richtung: ‚Wow, du bist so klug, du kommst aus Donezk.‘ Ich antworte, dass wir auch zur Schule gegangen sind, wir können lesen, wir können denken, wir sind die gleichen Menschen. Es ist nicht so, dass wir alle geboren wurden und in ein Bergwerk oder eine Fabrik gegangen sind... Wir hatten auch eine Ausbildung, wir hatten eine Kultur, und es ist sehr seltsam, so etwas über seine Heimat zu hören“.
„Jeder muss verstehen, dass wir eine Kultur haben, dass wir große Künstler haben, die aus Donetschyna und Luhanschyna kommen! Wir haben Attraktionen! Ich weiß nicht, warum die Leute denken, dass es hier nur um Minen und Fabriken geht“, fügt Indi hinzu.
In ähnlicher Weise müssen die Mädchen bei ihren Aktivitäten erklären, warum sie nicht „Donbas“ sagen sollten. Warum „Donetschyna“?
Der Donbas ist ein Industriegebiet, in dem sich das Donezker Kohlebecken befindet. Es umfasst das Gebiet Donezk, das Gebiet Luhansk, das Gebiet Dnipropetrowsk, das Gebiet Saporischschja und einen sehr kleinen Teil des Gebiets Charkiw und sogar einen Teil der Russländischen Föderation. Dementsprechend ist es nicht mehr angemessen, vom Donbas als nur von zwei Regionen zu sprechen.
Fassen Sie die Regionen Donezk und Luhansk nicht zu einer Region zusammen. Das sind zwei verschiedene Regionen, die ihre eigene Geschichte haben, die ihre eigenen Merkmale haben, die in mancher Hinsicht eine etwas andere Zusammensetzung der Bevölkerung haben.
Der Begriff „Donbas” wird in der russischen Propaganda sehr häufig verwendet. Denn das ist genau die Region, in der dieser Neue Mensch, „Homo Sovieticus“ entstanden ist. Und jetzt manipuliert Russland ihn sehr stark. Die Menschen im Donbas, die Kinder des Donbas, als ob sie etwas von der Ukraine Getrenntes wären. Der Begriff „Donbas“ scheint die authentische Region Donezk und die Region Luhansk von der gesamten Ukraine zu trennen.
Mariupol ist nicht Teil des Donbas. Und wenn wir über die Region Donezk sprechen, ist sie, wenn man es genau nimmt, in drei Regionen unterteilt. Der obere Teil ist die Region Sloboschanschtschyna (Sloboda-Ukraine), in der Mitte liegt Donbas, und wenn wir näher ans Meer gehen, liegt dort schon Pryasowja (Gebiet entlang der Küste des Asowschen Meeres). Das heißt also, selbst Donezk gehört nicht zum Donbas.
Nata und Indi planen bereits, das Projekt Krylaty weiter auszubauen. Insbesondere wollen sie mit jungen Menschen arbeiten, die ebenfalls wegen des Krieges ihre Heimat verlassen haben, sie werden über die Region Donezk und die Ukraine als Ganzes sprechen.
Nata sagt: „Ich denke, dass wir mehr in den Osten gehen werden (Dnipro, Charkiw, vielleicht Kropywnyzkyj), weil es dort jetzt eine große Konzentration von Binnenvertriebenen gibt, und dort speziell mit jungen Menschen arbeiten. Schließlich sind viele ihrer Eltern noch anders sozialisiert. Es ist einfach notwendig, diesen Kindern und Jugendlichen zu erklären, wie ihre Region wirklich ist, wie die Ukraine wirklich ist, wie die Jugend in den freien Gebieten wirklich ist, dass sie offen ist. Eigentlich ist jetzt fast die ganze Ukraine offen für Kommunikation und Erfahrungsaustausch“.
Und auch sie selbst sind offen, sich in andere Richtungen zu entwickeln. Indi sagt: „Ich denke, Krylaty wird sich in eine künstlerische Richtung entwickeln. Im Moment sind unsere Veranstaltungen nicht nur Vorträge, sondern auch Fotoausstellungen, das heißt, wir lassen die Leute in diese Atmosphäre der Region eintauchen, damit sie verstehen, wie sie ist.“.
Natürlich planen sie, nach dem Sieg nach Hause zurückzukehren. Indi will nach Mariupol gehen und auch die Krim besuchen. Nata will sich am Wiederaufbau ihrer Heimatstadt Donezk und Toretsk beteiligen und schließlich sich in aller Ruhe ein Leben in einem friedlichen Land aufbauen.
Autorin: Olena Ohonovs’ka
Foto: mit freundlicher Genehmigung von Indi und Nata
Verfolgen Sie das Projekt „die Geflügelte“ hier
Gefördert von den Kyjiwer Gesprächen entstanden auf Sebto.Media vier "Geschichten der Zukunft" über ukrainische Jugendliche aus der Ostukraine, die aufgrund der Vollinvasion ihre Heimat verlassen mussten. Dieser Artikel über KRYLATY ist nun auf Deutsch erschienen.