Die Kyjiwer Gespräche veranstalteten zwei Podiumsdiskussionen zum Thema „Durch Sanktionen den Krieg verkürzen?“. Die erste Veranstaltung fand am 13. Dezember 2023 in der Ukrainischen Freien Universität in München statt. Die zweite folgte am 14. Dezember 2023 im Literaturhaus Stuttgart.
Nach Beginn der vollumfänglichen russischen Invasion wurde ein internationales Sanktionsregime gegen Russland verhängt. Doch die über 13.000 Sanktionen haben es weder vermocht, die Fähigkeit Russlands zur intensiven Kriegsführung hinreichend zu limitieren noch haben sie verhindert, dass westliche Komponenten ihren Weg in russische Waffensysteme finden.
Zwei Abende wurden der Frage gewidmet, wie das Sanktionsregime heute umgesetzt wird, welche Herausforderungen bestehen und wie nachgeschärft werden muss, um die Umgehung der Sanktionen und Exportkontrollen zu verhindern.
An beiden Tagen diskutierten
Gunter Deuber, Managing Director und Chefvolkswirt, Raiffeisen Bank International
Benjamin Hilgenstock, Senior Economist, Kyiv School of Economics
Emiliia Dieniezhna, Head of Communications and Advocacy, Independent Anti-Corruption Commission (NAKO), Journalistin und Redakteurin mit Ukraine-Fokus
unter Moderation von
Marcus Welsch, Dokumentarfilmregisseur und Publizist
Gunter Deuber, Managing Director und Chefökonom der Raiffeissenbank International, Wien
Sanktionen allein können keinen Krieg verhindern oder beenden. Sie sind eines der Instrumente neben der militärischen, humanitären und diplomatischen Unterstützung der Ukraine.
Durch die gegen Russland verhängten Sanktionen, den Ölpreisdeckel und die Beendigung des Gashandels entgehen Russland Einnahmen von rund 100 Mrd USD pro Jahr. Dies sei zwar eine beträchtliche Summe aber nicht ausreichend, um die russische Fähigkeit zur Kriegsführung einzuschränken, konstatierte Benjamin Hilgenstock in seiner Einführung.
Die Analyse der russischen Wirtschaftsdaten und militärischer Kapazitäten zeigten, dass die Sanktionen nicht die gewünschten Ergebnisse erbracht haben.
Gunter Deuber merkt hierzu an, dass Russland derzeit von ca 60% der Weltwirtschaft (in BIP) mit Sanktionen belegt ist. Die verbleibenden 40%, zu denen China mit 20% und Staaten „ohne klare geopolitische Positionierung“ gehören, könnten die westlichen Handelspartner zwar nicht ersetzen, aber eine gewisse Stabilität der russischen Wirtschaft sicherstellen.
Die Effekte der Finanzmarktsanktionen seien insgesamt nicht sehr einschneidend gewesen. Dies führt Deuber darauf zurück, dass Russland bereits seit 2013 die Verflechtungen mit westlichen Finanzmärkten sukzessiv drosselte. Heute liege die Verflechtung ungefähr auf dem Niveau wie zu Zeiten der späten Sowjetunion:
„Gemessen am Ziel, dass die Sanktionen die Kriegsfähigkeit Russlands einschränken sollten, können diese nicht als Erfolg gewertet werden.“
Dies läge einerseits an der unzureichenden Durchsetzung der bestehenden Sanktionen und Exportkontrollen, an langsamen Entscheidungsprozessen, die Russland Vorbereitungszeit verschaffen sowie Staaten wie China, die konsistent und konsequent die Sanktionen unterlaufen.
„Die Schlussfolgerung daraus darf nicht sein, die Sanktionen insgesamt infrage zu stellen. Hingegen müssen Wege entwickelt werden, dass sie doch noch die gewünschte Wirkung entfalten“, mahnte Benjamin Hilgenstock.
Zu Beginn der vollumfänglichen russischen Invasion reagierte der Westen schnell und entschieden mit starken Sanktionen, auf die Russland nur unzureichend vorbereitet war. Dies basierte auf professioneller, vertraulicher Planung und schneller Implementierung.
Den darauffolgenden Sanktionspaketen gingen lange öffentliche Debatten voraus, die Russland Zeit gaben, Vorbereitungen zu treffen, die die Sanktionen in ihrer Wirkung schwächte.
Gunter Deuber warnte davor, die Kompetenz der russischen Bürokratie im Finanzministerium und der Notenbank zu unterschätzen. Mit Kreativität und Erfahrung arbeiteten russische Behörden an Optionen der Sanktionsumgehung und könnten schnell reagieren.
Diese Herausforderung gilt sowohl für exportkontrollierte Güter als auch für das wirkungsvollste Sanktionsinstrument – den Ölpreisdeckel.
Der Ölpreisdeckel wird nur dann wirksam, wenn westliche Staaten in den Verkaufsprozess involviert sind. Dies geschieht in der Regel über Versicherungen. Die langen öffentlichen Debatten vor Einführung des Ölpreisdeckels nutzte Russland, um eine „Schattenflotte“ aufzubauen. Diese oft sehr alten Öltanker mit verschleierter Eigentümerstruktur, sind unzureichend oder nicht versichert und können so den Ölpreisdeckel umgehen.
Die Umleitung der Verkäufe an andere Staaten lasse sich mit Daten sehr gut nachvollziehen. Eine rechtliche Handhabe im derzeitigen Sanktionsregime gibt es jedoch nicht. Eine schnelle Nachschärfung der Sanktionen ist daher essenziell. Denn in einigen Monaten könnte diese „Schattenflotte“ Kapazitäten für den gesamten Ölexport aufgebaut haben und den Öldeckel in Gänze wirkungslos machen, führte Hilgenstock aus.
Benjamin Hilgenstock, Senior Economist an der Kyiv School of Economics
Die Schattenflotte birgt auch ein ökologisches Risiko, wie Hilgenstock berichtet. Im Frühjahr sei beinah ein Öltanker der „Schattenflotte“ vor der dänischen Küste havariert. Bei einer Umweltkatastrophe wäre es kaum möglich gewesen, Gelder zur Beseitigung der Schäden von den Betreibern der „Schattenflotte“ einzufordern, weil die Schattenflotten nicht unter internationalem Versicherungsschutz stehen.
Als Lösung sei denkbar, dass Anrainerstaaten die Durchfahrt von Ost- zu Nordsee bzw. vom Schwarzen Meer ins Mittelmeer nur Schiffen mit angemessener Versicherung erlauben, die festen Sicherheits- und Transparenzstandards genügen. Dies würde Russland zwingen wieder auf eine Flotte zurückzugreifen, die von westlichen Versicherungen versichert wird und damit verbunden auch den Ölpreisdeckel einhält.
Doch die Implementierung des Ölpreisdeckels ist nicht nur erschwert durch die russische „Schattenflotte“. Auch die Kontrollen sind unzureichend aufgestellt. Die Versicherer erhalten von den Öltransportunternehmen eine Bestätigung über die Einhaltung des Ölpreisdeckels von 60€.
Im derzeitigen Sanktionssystem gibt es kein Instrument, um die Kontrolle der Informationen sicherzustellen. Tochterunternehmen von Rosneft seien in Dubai gegründet worden, die solche Zertifizierungen ausstellen – ohne die Möglichkeit, dies ohne großen Aufwand zu verifizieren. „Wir müssten jedes Schiff physisch kontrollieren anstatt sich auf Papiere zu verlassen. Es bedarf einer großen Maschinerie, wenn wir die Implementierung wirklich ernst nehmen wollen“, gab Deuber zu bedenken.
Wenn die Implementierung sichergestellt ist, kann auch bei der Höhe des Preisdeckels nachgeschärft werden. Denn dieser läge mit 60 USD noch deutlich zu hoch, fasste Hilgenstock zusammen.
Emiliia Dieniezhna, Head of Communications and Advocacy, Independent Anti-Corruption Commission (NAKO), Journalistin und Redakteurin mit Ukraine-Fokus
In einer Kinschal-Rakete sind über 100 Komponenten aus westlicher Produktion verbaut, eröffnete Emiliia Dieniezhna den Themenbereich. Dieser Raketentyp wurde auch am Abend der Veranstaltung auf die Ukraine abgefeuert. Die ukrainische Behörde für Korruptionsprävention habe über 2000 westliche Komponenten in russischen Waffensystemen identifizieren können.
Dazu gehörten zum einen große Firmen wie internationale Chip-Hersteller, die legal mit Drittländern Handel treiben, ohne dass der Endverbleib überprüft werde. Doch das Sanktionsregime habe noch immer große Lücken, wie Dieniezhna bestätigt: „Es gibt hunderte kleine westliche Firmen, die Technik nach wie vor an Russland liefern und keinen Sanktionen unterliegen“ und forderte eine konsistente und konsequente Umsetzung der Sanktionen. „Über 300 mittelgroße russische Rüstungsfirmen wurden dahingehend untersucht, welche Jurisdiktionen diese Firmen mit Sanktionen belegt hat. Nur ein Bruchteil der untersuchten Rüstungsfirmen sind direkt mit Sanktionen belegt, manche nur von den USA, manche nur von der EU - dies kann besser koordiniert werden“.
Und auch im Falle der Exportkontrolle muss die Implementierung entlang der Wertschöpfungsketten verbessert werden. Wenn ein Unternehmen Chips in Fernost produziere, nach Hong Kong verkaufe und diese dann via China nach Russland gelangen, berühren sie zu keinem Zeitpunkt die Zuständigkeit deutscher/westlicher Behörden. Wer wird sie kontrollieren oder dazu bringen, eigene due diligence procedures aufzubauen? „Die Kontrolle über Distributionsketten wird nur stattfinden, wenn Konsequenzen gefürchtet werden müssen.“ Antwortete Hilgenstock. „Keine staatliche Behörde wäre in der Lage, hunderttausende Transaktionen zu prüfen. Dies müsse von den Unternehmen selbst kommen.“
Deuber pflichtete ihm bei: „Was an Technik und KI bei der Geldwäschekontrolle im Finanzmarkt eingesetzt wird kann auch zum Sanktionstracking eingesetzt werden“
Panel während der Veranstaltung in München
In den Medien war viel über den Zuwachs des Zentralasienhandels berichtet worden in der Sorge, dass von dort exportkontrollierte Güter nach Russland weiterverkauft würden.
„Der Handel über Zentralasien ist nicht das Hauptproblem“ fasste Deuber die Handelsdaten zusammen. Die Exporte Kasachstans nach Russland betragen rund 8 Milliarden, während die Exporte Chinas ein Vielfaches ausmachen. „Wir reden hier über Exporte nach Russland in Bereichen von bis zu 110 Milliarden Dollar im Jahr und natürlich über Dual Use Güter und alles Weitere. Richtig scharfe Sanktionen wird es nur geben, wenn der Druck auf Länder wie China erhöht wird, die substanziell und strukturell die Sanktionen bewusst unterwandern.“
Ein weiteres scharfes Schwert seien Sekundärsanktionen (d.h. Firmen, die sich nicht an das Sanktionsregime halten, verlieren den Marktzugang etwa zum amerikanischen Markt). Da der Zugang zum amerikanischen Markt für die meisten Unternehmen überlebenswichtig ist, sind diese Sanktionen besonders wirksam. In Europa werden Sekundärsanktionen jedoch als rechtswidrig betrachtet und führten auch schon im Falle Irans zu politischen Unstimmigkeiten.
„Scharfe Sanktionen gibt es dann, wenn die großen Sanktionsumgeher [wie China und Indien] vor die Wahl gestellt werden, ob sie auf dem europäischen und amerikanischen Markt aktiv sein wollen oder nicht“, fasste Deuber die Wirksamkeit von Sekundärsanktionen zusammen.
Panel in Stuttgart (v.l.n.r.): Gunter Deuber, Marcus Welsch, Emiliia Dieniezhna, Benjamin Hilgenstock
Emiliia Dieniezhna berichtete von ihren Bekannten an der Front, die immer wieder darauf drängten, sich für schärfere Sanktionen einzusetzen, die den Zufluss kriegsrelevanter Bauteile nach Russland endlich zum Erliegen brächten. „Wir werden immer wieder von russischen Waffen beschossen und wir wissen um die westlichen Komponenten in den Waffen. Es ist wichtig, dass der Öffentlichkeit klar wird, wessen Komponenten welcher Firmen darin verbaut sind.“, berichtete Dieniezhna
Wenn staatliche Sanktionskontrollen (noch nicht) stark genug sind, um belastbare due diligence procedures entlang der Logistikketten bei Unternehmen anzuregen, bleibt öffentlicher Druck das Mittel der Wahl, um die Bereitschaft der Firmen zu beeinflussen, ihre Handelsketten stärker zu kontrollieren.
„Wir loben uns selbst, wenn wir aus Deutschland Patriot-Raketen in die Ukraine liefern. Gleichzeitig schaffen wir es nicht, die Lieferketten zu unterbrechen, damit Russland gar nicht erst die Raketen herstellen kann, die die Patriots dann abschießen müssen. Diese Implementierungsfrage muss dringend gelöst werden“, fasste Hilgenstock zusammen.
Die Veranstaltung in München fand in Zusammenarbeit mit der Ukrainischen Freien Universität, der Friedrich Naumann Stiftung Landesbüro Bayern und der Thomas Dehler Stiftung statt.
Die Veranstaltung in Stuttgart fand in Zusammenarbeit mit der Heinrich Böll Stiftung Baden-Württemberg statt.
Wir bedanken uns herzlich bei unseren regionalen Partnern in Stuttgart und München für die Kooperation und freuen uns über eine Fortsetzung der Zusammenarbeit im kommenden Jahr.
Benjamin Hilgenstock ist Senior Economist am KSE Institute der Kyiv School of Economics und befasst sich schwerpunktmäßig mit dem internationalen Russland-Sanktionsregime, insbesondere in den Bereichen Energie, Finanzen und Exportkontrollen. Er ist zudem Associate Fellow der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) und Mitglied der International Working Group on Russian Sanctions.
Gunter Deuber ist Managing Director und Chefvolkswirt Raiffeisen Bank International AG (RBI), Wien. Deuber war eng in die Finanzsanktionsdebatte und -vorbereitung involviert. Er analysiert mit seinem Team in Wien und Kolleg*innen in 12 osteuropäischen Ländern, inkl. Russland und der Ukraine, die Finanzmarkt- und Bankensektorentwicklungen. Im Jahr 2019 schärfte er seine geoökonomischen Kenntnisse im Rahmen des International Visitor Leadership Programm (IVLP) auf Einladung des US-Außenministeriums. Deuber ist studierter Ökonom und Philosoph.
Emiliia Dieniezhna leitet die Kommunikations- und Advocacy-Abteilung der Independent Anti-Corruption Commission (NAKO), die sich mit Korruptionsbekämpfung im Sicherheits- und Verteidigungsbereich befasst. Dieniezhna ist Journalistin und Redakteurin mit 15 Jahren Erfahrung. Sie hat in der Ukraine unter anderem für Ukraina, 112-Ukraina, NTN und Bloomberg-Projekte gearbeitet. Seit 2022 lebt sie teilweise in München und schreibt die wöchentliche Kolumne „Zwischen den Welten“ für die Süddeutsche Zeitung, wie auch Beiträge für Engagement Global und Funke Mediengruppe.
Marcus Welsch arbeitet als Dokumentarfilmer und Publizist, zuletzt zusammen mit Serhij Zhadan an dessen Buch »Himmel über Charkiw«. Welsch beschäftigt sich mit OSINT-Journalismus und Datenanalysen, seit 2014 besonders zum russischen Krieg gegen die Ukraine, zu militärischen und außenpolitischen Hintergründen, sowie zum deutschen Diskurs darüber. 2021 leitete er in der Ukraine eine Workshopreihe zu Journalismus und Filmrecherche u.a. zu den Themen Desinformation und Geschichte.