Die Geschichte von unserer Netzwerkpartnerin Olha Leontyeva aus dem derzeit besetzten Melitopol ist nur eine Geschichte von tausenden. Nachdem sie Todesdrohungen erhielt, musste sie ihre Heimatstadt nur mit dem Notwendigsten verlassen und sich auf ukrainisch kontrolliertes Gebiet in Sicherheit bringen. Ihr Wohnhaus wurde von den russischen Besatzern enteignet und „nationalisiert“.
Von Olha Leontyeva, NGO "Patriot"
Aus dem Ukrainischen von Beatrix Kersten
„Am Anfang der Besatzung gaben wir uns noch der Illusion hin, dass die Russen Zivilisten in Ruhe lassen würden. Schnell wurde uns klar, dass es anders kommen wird”, erzählt Olha. „Zuerst unterdrückten die Besatzer den Widerstand der Melitopoler Bürgerinnen und Bürger, die auf die friedlichen Demonstrationen gingen, dann begannen die Entführungen. Zuerst traf es Angehörige der Streitkräfte und der Polizei oder Menschen in politischer Verantwortung. Danach Ehrenamtliche und Aktivist*innen. Bereits ab Anfang März 2022 habe ich nicht mehr zu Hause gewohnt, denn ich habe ja seit 2014 die Armee unterstützt, bin Vorsitzende einer NGO namens „Patriot” und hatte einen Kreis lokaler Unternehmer um mich geschart. Ich konnte also davon ausgehen, auf einer der ‚Schwarzen Listen’ zu stehen."
«Mein Zuhause fühlte sich besudelt an»
"Der Beweis dafür war die Durchsuchung meiner Wohnung gleich in den ersten Tagen der Besatzung kam. Zum Glück war ich vor dem bevorstehenden ‚Besuch’ gewarnt worden. Als mir Nachbarn berichteten, wie die Sache dann ablief, wurde mir körperlich übel. Für mich ist mein Zuhause ein heiliger Ort, ich lade nur selten andere zu mir ein, und jetzt waren dort nicht nur Fremde gewesen, sondern der Feind. Sie hatten alles auf den Kopf gestellt und Dokumente abfotografiert, für meine ehrenamtliche Arbeit habe ich nämlich viele Urkunden, Auszeichnungen und Danksagungen erhalten. Ich mag mir also kaum ausmalen, was sie mir alles zur Last gelegt hätten, wenn sie mich zu Hause angetroffen hätten. Und dennoch, es bleibt das Gefühl, dass sie mein Zuhause besudelt haben. Sie haben mir etwas für mich sehr Wichtiges genommen.”
Flucht aus der besetzten Stadt
Olha fügt hinzu, dass sie gleichzeitig auch die ersten Drohungen erhielt – in dem Chatroom, den sie für den Unternehmerzirkel moderierte, und auch über ihr Mobiltelefon. Dennoch gelang es ihr nicht nur, einer Verhaftung zu entgehen, indem sie ständig ihren Aufenthaltsort wechselte, sie schaffte es schließlich auch, aus der besetzten Stadt zu fliehen.
Andere Bewohnerinnen und Bewohner von Melitopol, die die Stadt nicht rechtzeitig verlassen wollten oder konnten, hatten weniger Glück. Allein die offizielle Statistik weist 150 Fälle aus, in denen in den anderthalb Jahren seit Beginn der Besatzung Menschen aufgrund unrechtmäßiger Festnahmen und Entführungen zu Tode kamen. Die tatsächliche Zahl dürfte weit darüber liegen. Gleiches gilt für die erfassten Fälle von ‚Nationalisierung’, wonach 500 Wohnungen und Häuser von Melitopoler Bürgern und zusätzlich 500 weitere Immobilien widerrechtlich enteignet worden sein sollen.
Aushang des "Ministeriums für Eigentums und Landbeziehungen der militärisch-zivilen Verwaltung der Region Saporoschje" einem Wohnhaus im besetzten Melitopol: "Die Räumlichkeiten weisen Anzeichen von Verwahrlosung auf. Eigentümer müssen Eigentumsdokumente (Originale) persönlich an folgende Adresse schicken"
„Dieses Schicksal traf auch mein Haus. Nach der Razzia gab es zwei Versuche, meine Hunde zu vergiften versucht (beim ersten Mal wurde ein Teil der Tiere gerettet) und regelmäßig fuhr ein verdächtiges Auto durch die Straße. Später erfuhr ich dann, es seien ‚neue Besitzer’ eingezogen. Diese Nachricht kam im Herbst, sechs Monate, nachdem ich die Stadt verlassen hatte”, berichtet Olha. „In meinem Fall gingen die Besatzungsbehörden nicht nach Schema F vor, wonach meistens erst ein Aushang anzeigt, dass ein Haus oder eine Wohnung ‚keine Besitzer’ haben, man dann pro forma eine Weile abwartet, um sie sich schließlich anzueignen. Bei mir haben sie direkt einen ihrer Handlanger einquartiert. So haben sie es mit dem Wohneigentum derjenigen gemacht, die ihrer Meinung nach für immer gegangen waren.
Einerseits war das sehr schmerzhaft, weil sie mir mein Haus und mein Eigentum genommen haben, allerdings konnte ich ja schon nach der Durchsuchung nicht mehr dorthin zurück oder auch nur etwas holen, das Risiko war zu groß. Andererseits fühlte ich auch eine Art Erleichterung, weil ich mir ab da keine Sorgen mehr zu machen brauchte. Sie hatten mir wirklich alles weggenommen, ich war am Nullpunkt. Trotzdem fand ich es ganz schlimm, als in der Nähe unseres Hofs eine Sprengfalle explodierte – angeblich ein Anschlag auf einen der kollaborierenden Polizisten, so zumindest stellte es die Propaganda dar.
Russische Soldaten in den Straßen Melitopols
Man schafft es eben einfach nicht, gleichgültig zu sein gegenüber all dem, was sie vernichten wollen, was sie in den Dreck ziehen – das, wofür du gearbeitet hast, den Ort, an dem deine Kinder aufgewachsen sind. Mittlerweile will ich unbedingt zurück nach Hause und ich bin überzeugt, dass es dank der ukrainischen Streitkräfte auch so kommt, dass ich das schaffe. Dann wird wohl eine Totalrenovierung fällig, damit in meinem Haus keine Spur von der „Russischen Welt” zurückbleibt.
Es ist schon paradox, denn als russischsprachige Ukrainerin bin ich ja eine von denen, die die russische Armee angeblich „befreien” wollte. Und sie hat mich in der Tat befreit … befreit von meinem Haus, meinem Besitz, den Lebensperspektiven in meiner Heimatstadt und davon, mich für ihre Weiterentwicklung einzusetzen. Nichts von all dem habe ich gewollt, genauso wenig wie der Rest meiner Landleute, denen der Feind ähnliches Leid zugefügt hat.”
Seit über einem Jahr bereitet ein kleines Team von Menschen aus Melitopol und Saporischschja täglich die Nachrichtenlage auf, macht Livesendungen mit Bürger*innen oder Politiker*innen, leitet Medientrainings und erstellt Videos, die die Manipulationen der russischen Propaganda entlarven. All das, um die freie Ukraine darüber zu informieren, was unter der Besatzung geschieht, und um bei denen die Hoffnung nicht schwinden zu lassen, die in Melitopol ausharren und auf die sichere Befreiung warten.
Propagandaplakate der russischen Militärverwaltung im besetzten Melitopol
„Eine der ersten Aktionen der Besatzer war es, sich in Melitopol der Redaktionen der örtlichen Medien zu bemächtigen und auf jede nur erdenkliche Art zu versuchen, die Journalisten zu einer Zusammenarbeit zu bewegen – sei es mit Angeboten, sei es über Drohungen oder gleich durch Entführung”, erinnert sich Olha Leontyeva. „Da wurde mir klar, dass ihnen das sehr wichtig ist und wir dem etwas entgegensetzen müssen. In der ersten Zeit haben sich alle auf humanitäre Hilfe konzentriert, damit die Menschen in Melitopol mit Medikamenten, Lebensmitteln und Hygieneartikeln versorgt werden können.
Ich dagegen habe mich hingesetzt und ein Konzept für ein Medienprojekt erstellt. Viele haben mir abgeraten, weil sie meinten, dafür sei nicht die Zeit. Aber ich habe Unterstützer für meine Idee gefunden. Wir mussten dann Dampf machen – schnell ein Team zusammenstellen, unsere Strategie entwickeln und loslegen. Wir entschieden uns dafür, die Facebook-Gruppe ‚Nachrichten aus Melitopol’ zu nutzen, die schon vor dem flächendeckenden Krieg bestanden hatte und bisher auf freiwilliger Basis geführt wurde. Wie sich mit der Zeit zeigte, war das genau die richtige Entscheidung, denn so genossen wir von Anfang an das Vertrauen unserer Leser*innen.”
Die Besatzer haben eine russische Fahne gehisst
Der Schwerpunkt, so Olha, lag auf Posts, die sich schnell über verschiedene Kanäle in den Sozialen Medien verbreiten lassen. Obwohl Melitopol nicht erreichbar war, und Einheimische nur mit großem Risiko Informationen aus der Stadt herausschicken konnten, gelang es dem Team dennoch, zu Verbrechen der Besatzer zu recherchieren und darüber zu berichten – über die Verhaftungen und Verschleppung von Menschen, den Diebstahl kommunalen Eigentums, die zwangsweise ausgestellten Pässe und vieles mehr.
„Irgendwann haben wir verstanden, dass wir da nicht nur Nachrichten machen, sondern den Einwohner*innen der besetzten Stadt eine Chance geben, gehört zu werden. Und je mehr Zeit vergeht, desto wichtiger wird dieser Aspekt, weil sich sogar Ukrainerinnen und Ukrainer, sofern sie es nicht selbst erlebt haben, nur schwer vorstellen können, was es bedeutet, im 21. Jahrhundert in völliger Unfreiheit zu leben. Wenn sie dich für jedes Wort, für irgendein Foto auf dem Telefon ‚in den Keller’ abführen, dich grundlos beschuldigen, dir alles Mögliche anhängen können, zum Beispiel Terrorismus.
Demonstrierende mit Ukraine-Fahnen, Foto: Sergio Cherkes
Die Melitopoler*innen leisten Widerstand
Uns ist es wichtig, dass man die Menschen in Melitopol nicht durch die Bank als Kollaborateure abstempelt, obwohl es die natürlich auch gibt. Die Mehrheit aber steht loyal zur Ukraine und leistet Widerstand, und das jetzt schon im zweiten Jahr. In Melitopol sind viele Aktivist*innen der ‚Gelbes Band’-Bewegung, die propagandistische Zeitungen einsammeln und verbrennen und Flugblätter verteilen, auf denen sie dazu aufrufen, sich nicht an den Passvergabeaktionen oder an irgendwelchen Pseudowahlen zu beteiligen, die die Russen inszenieren. Auch die ‚Bösen Nixen’, eine Frauengruppe, leistet Widerstand gegen die Besatzer.”
Nachrichten aus der freien Ukraine geben Hoffnung
Darüber hinaus ist es Olha zufolge auch sehr wichtig, dass ukrainische Nachrichten zu den Menschen in den besetzten Gebieten durchdringen. Die Russen versuchen, dies weitestgehend zu unterbinden, um nur die eigene, verfälschte Version im Umlauf zu haben. Melitopoler*innen aber haben Olha in vertraulicher Kommunikation wiederholt bestätigt, dass sie die Verfügbarkeit von ukrainischen Informationen als Anzeichen dafür auffassen, dass Melitopol sicher wieder ukrainisch wird.
„Einmal im Monat veröffentlichen wir ein Video, auf dem wir Desinformation und Fake News der Russen entlarven”, berichtet Olha weiter. „Wie zum Beispiel am Anfang der Okkupation die Mitarbeiter von Behörden und kommunalen Dienstleistern mit hohen Gehältern geködert wurden, die wenig später signifikant einbrachen.
Propaganda-Parade durch das besetzte Melitopol
Die Russen wollen die nationale Identität unserer Stadt zerstören, indem sie alles entfernen, was auf unsere Geschichte schließen lässt. Sogar das Denkmal für Taras Schewtschenko im Stadtzentrum. Stattdessen führen sie die sowjetischen Straßennamen wieder ein. Der Lebensstandard in der Stadt hat sich derweil gravierend verschlechtert. Für minderwertige Lebensmittel müssen hohe Preise gezahlt werden, die Gesundheitsversorgung ist schlecht, und man schwebt schon deswegen konstant in Lebensgefahr, weil es regelmäßig zu Unfällen mit Militärtechnik kommt.
Militärgerät in den Straßen Mariupols
Informationen dieser Art sind ein gutes ‚Gegengift’ für diejenigen Ukrainer*innen, die vielleicht immer noch meinen, Russland könnte ihnen etwas Positives bieten. Vor dem flächendeckenden Angriffskrieg konnte man in Melitopol gut leben. Die Stadt hatte ein gewisses Niveau erreicht und entwickelte sich gut. Inzwischen ist sie um mehrere Jahrzehnte zurückgefallen. Wir zeigen auch diesen Kontrast, aber wir sind überzeugt, dass wir irgendwann nicht nur denselben Lebensstandard wieder erreichen, sondern unsere Stadt sogar noch schöner machen werden.”
Olha Leontyeva ist Aktivistin aus Melitopol und arbeitet als Coach und Trainerin.
Als der Krieg 2014 begann, gründete sie die NGO "Patriot", die Binnenvertriebene aus den umkämpften Gebieten sowie das ukrainische Militär unterstützt.