Die Ukraine erlebt seit 2014 einen Prozess der Transformation. Im Rahmen der Dezentralisierungsreform wurden die Gemeinden umgebaut und fusioniert. Nun werden sie nicht mehr aus Kyiv, sondern direkt aus ihren Steuergeldern finanziert. So soll die lokale Selbstverwaltung gestärkt werden. Die Ergebnisse der Reform sieht man auch im öffentlichen Raum: Da wo früher nur alte sowjetische Kulturhäuser als Orte der Begegnungen genutzt wurden, entstehen neue Initiativen. Kiewer Gespräche unterstützen diesen Prozess mit Seminaren und Finanzierungen von Kleinprojekten. In diesem Interview sprechen wir mit unseren Regionalkoordinatoren Daria Frych-Alchina in Mykolajiw und Serhii Gulchuk in Charkiw über ihre Erfahrungen, Erfolgsgeschichten und Herausforderungen.
Sie haben sich in den Gebieten Mykolajiw und Charkiw 2019 mit dem Thema „Dritte Orte“ beschäftigt. Was bedeutet das?
Daria Frych-Alchina: Kurz gesagt gibt es „den ersten Ort“ – das ist unser Zuhause, unsere Privatsphäre, in der wir am meisten Zeit verbringen. Dann gibt es den „zweiten Ort“, unseren Arbeitsplatz, an dem wir uns auch lange aufhalten und bestimmten kollektiven Regeln folgen. Und dann gibt es diese „dritten Orte“, also alles, was außerhalb des Karussells zwischen Arbeitsplatz und Zuhause existiert. In vielen ukrainischen Klein- und Mittelstädten gibt einen Mangel, was dritte Orte angeht. Dann kann zum Beispiel auch ein Schönheitssalon eine Funktion eines solchen Ortes übernehmen. Dort erhalten Frauen und Männer nicht nur Dienstleistungen, sondern tauschen Neuigkeiten aus, lernen sich kennen. Aber unser Ziel ist es, die Entstehung nicht kommerzieller Orte für Begegnungen zu unterstützen.
Serhii Gulchuk: In der ersten Linie sind „dritte Orte“ Orte der Zusammenkunft, an denen Menschen Gleichgesinnte suchen, Menschen mit gemeinsamen Werten, und an denen sie sich wohl fühlen. Orte, an denen Kontakte geknüpft werden, Vertrauen aufgebaut und Wissen weitergegeben wird. Gerade dort kann man die Zugehörigkeit zu einer Community erleben und dadurch die Orte in einen lebendigen Raum für Austausch verwandeln. Dort können soziale, Bildungs- und Kulturprojekte entwickelt werden, die das Leben in der Gemeinde verbessern. „Dritte Orte“ können sowohl in Innenräumen als auch unter freiem Himmel entstehen.
Wer hat die Seminare besucht und welche Themen waren am interessantesten?
Daria Frych-Alchina: Es gab 6 Teams aus verschiedenen Gemeinden, Mittel- und Kleinstädten, also ca. 18-20 aktive TeilnehmerInnen in jedem Seminar. Vor allem VertreterInnen der Selbstverwaltung der neuen durch die Dezentralisierungsreform vereinigten Gemeinden, MitarbeiterInnen von Kulturinstitutionen und zivilgesellschaftliche AktivistInnen. Davon gibt es nicht viele in unserer Region, weil die meisten, die etwas verändern wollen, bereits bei der kommunalen Selbstverwaltung arbeiten. Das drängendste Thema war die Suche nach finanziellen Mitteln. Deshalb haben wir viel zu Fundraising, Crowdfunding und Projektmanagement gearbeitet. Viele Fragen bezogen sich auf die Entwicklung von Städten: Wie verändern Parks das kriminelle Potenzial der Bezirke? Wie beeinflussen Spielplätze die Sicherheit in der Stadt? Wie kann man sich mit den Nachbarn einigen und den Wohnblock angenehm gestalten? Wir haben uns intensiv mit der Analyse internationaler und ukrainischer Erfolgsmodelle im Bereich Entwicklung öffentlicher Räume beschäftigt.
Serhii Gulchuk: Auch für unsere TeilnehmerInnen waren Themen im Bereich Urbanistik und Entwicklung soziokultureller Räume interessant, das war demensprechend ein Schwerpunkt der Seminare. Unsere TeilnehmerInnen kamen aus den sieben Bezirken des Gebietes Charkiw, darunter zivilgesellschaftliche AktivistInnen, BeamtInnen, Abgeordnete, LeiterInnen und VertreterInnen von lokalen Hubs, Bibliotheken, Kulturhäusern. Sie bildeten Teams von 5-6 Personen, dazu kamen ein paar Einzelpersonen. Die Altersspanne war 16 bis 55 Jahre. Ein gutes Feedback bekamen die Seminare zu Online- und Offlinekommunikation. Besonders interessant war der Teil, in dem wir einen „Crash Test von Projekten” durchgeführt haben. Dort haben die Teams ihre Projekte vorgestellt. Die von uns eingeladene ExpertInnen, VertreterInnen internationaler Stiftungen und Institutionen haben die Projekte unmittelbar kommentiert. Sie haben auch Ratschläge gegeben, wie man die zentralen Ideen stärker hervorheben und die Fehler korrigieren kann. Das war eine einzigartige Chance, weil man im Alltag in der Regel kein Feedback auf Anträge bekommt.
Wenn Sie nur ein Erfolgsbeispiel aus Ihrer Region hinsichtlich der „dritten Orte“ nennen müssten, was wäre das?
Serhii Gulchuk: RedPark in Krasnohrad, welches die lokale Initiative „Heimatstadt“ mit Hilfe der Kiewer Gespräche eröffnet hat. Das ist ein Open Space, sowohl für Veranstaltungen geeignet, als auch für Tischspiele oder kleine Versammlungen.
Daria Frych-Alchina: In der Gemeinde Galyziwka haben wir zusammen mit anderen PartnerInnen das Medien-Zentrum „Nova“ in einer Schule eröffnet. Dort können SchülerInnen einen Kurs im Video-Journalismus belegen, Fotografie und Interview-Führung lernen, etc. Es ist geplant, dass vier weitere Zentren in der Gemeinde entstehen.
Welche Hindernisse sind bei Ihrer Arbeit aufgetreten?
Daria Frych-Alchina: Eines unserer größten Probleme war die Wahlkampfzeit im Land, die alle AktivistInnen und ExpertInnen stark beansprucht hat. Der Fokus lag nicht auf der langfristigen, alltäglichen, mitunter kaum sichtbareren Entwicklung der Gemeinde, sondern auf den politischen Intrigen. Man war mit den Fragen beschäftigt: Wer unterstützt wen, wird Zelensky die Wahl gewinnen, was wird dann passieren? Außerdem muss man große Ressourcen einsetzen, um beim Aufbau „dritter Orte“ Ergebnisse zu erzielen, und zwar nicht nur finanzielle, sondern auch menschliche, zeitliche, etc. Deshalb ist es sehr wichtig, regelmäßig das Wissensniveau der Menschen in der Gemeinde im Bereich Urbanistik zu erhöhen und bereits funktionierende Projekte zu unterstützen. Es geschieht durchaus häufig, dass ein Team eine Finanzierung bekommt und ein kleines Kulturzentrum aufbaut. Das kann aber nur solange bestehen bleiben, solange das Geld gesichert ist. Dann wird es in Schieflage geraten, wenn es nicht von Anfang an eine Strategie zur Finanzierung des Personals und zur Profitabilität gibt.
Serhii Gulchuk: Wir hatten gewisse Schwierigkeiten, weil die TeilnehmerInnen sehr unterschiedliche Erfahrungen hatten. Auch ihr Wissensstand war oft unterschiedlich. Außerdem war die Situation in jeder Stadt ein wenig anders. Deswegen ist das Potenzial der Städte bei allen Gemeinsamkeiten, die es gibt, sehr unterschiedlich. Wir haben angesichts dessen versucht, das Seminarprogramm im besten Sinne zu vereinheitlichen.
Was verbindet Mykolajiw und Charkiw Ihrer Meinung nach?
Daria Frych-Alchina: Ein Zug, der über 16 Stunden für die Strecke braucht ;) Im Ernst, ich persönlich glaube, dass die Städte einander sehr ähnlich sind, was die Atmosphäre betrifft, auch wenn Charkiw natürlich viel dynamischer ist. Es hat mehr EinwohnerInnen, mehr Studierende leben in der Stadt. Aber beides sind Großstädte, die ihre neue Identität suchen. Es gibt Dinge, die besser in Charkiw funktionieren, zum Beispiel die Entwicklung von Grünflächen. Dafür ist der Verkehr viel ruhiger in Mykolajiw. Dabei sind die Kleinstädte, zum Beispiel Pervomaysk im Gebiet Mykolajiw und Pervomaysky im Gebiet Charkiw sehr ähnlich. Sie haben auch gleiche Probleme: die Jugend wandert in die Großstädte ab, die öffentlichen Anlagen verrotten, es gibt kein Freizeitangebot. Ich bin sehr froh darüber, dass wir in beiden Regionen wunderbare aktive Leute haben, die aus eigener Kraft die Städte verändern.
Serhii Gulchuk: Sowohl Mykolajiw als auch Charkiw sind Industriestädte und Gebietszentren. Das ist meiner Meinung nach womöglich alles, was sie verbindet. Sie sind sehr unterschiedlich, was die Dynamik betrifft, die Bevölkerung, die Zivilgesellschaft. Das konnte man sowohl am Thema, mit dem wir gearbeitet haben, sehen, als auch an den TeilnehmerInnen und ihren Projekten. Aber in beiden Regionen gibt es Menschen, die ihre Orte sehr lieben und alles dafür tun, um das Leben dort besser für alle zu machen.
Interview: Inga Pylypchuk