#RegioUkraine. Charkiw: Eine Stadt der Lokalpatrioten und der Hilfsbereiten

Grafik: Olga Shchelushchenko

Unsere Serie #RegioUkraine porträtiert die Regionen der Ukraine. Die AutorInnen geben Einblicke in die prägenden Entwicklungen ihrer Heimat. Wir konzentrieren uns auf die acht Regionen, in denen die Kyjiwer Gespräche in den letzten Jahren aktiv sind. Im fünften Teil geht es um die Oblast Charkiw.

RegioUkraine erscheint in Kooperation mit "Ukraine verstehen“. 

Von Wiktor Pitschuhin, Charkiw

Charkiw im Osten der Ukraine ist stolz auf seine Vergangenheit als eine der wichtigsten Metropolen des Russischen Reichs sowie als erste Hauptstadt der Sowjetukraine. Die Spuren dieser Zeit sind hier noch sichtbar. In den letzten sieben Jahren nach der Maidan-Revolution und dem Ausbruch des Krieges weht aber ein neuer Wind in der Region. Durch die Arbeit von zivilgesellschaftlichen AktivistInnen verändert sie sich von innen und blickt in die Zukunft.

Charkiw strebte seit jeher nach einer Führungsrolle. In Charkiw erzählt man BesucherInnen gern, die Stadt sei die erste Hauptstadt der Ukraine gewesen und ihr zentraler Platz sei der größte in Europa. Lokale wie zugereiste Politiker auf Wahlkampftour machen sich den Dünkel der CharkiwerInnen zunutze und rühmen Charkiw mal als Hauptstadt der Studierenden, mal als Hauptstadt des Maschinenbaus oder der IT-Industrie.

In historischen Dokumenten wurde die heutige Region Charkiw zum ersten Mal im 12. Jahrhundert erwähnt. Ungefähr zehn Kilometer vom Stadtzentrum Charkiws entfernt lag damals die Stadt Donez, die später bei der mongolisch-tatarischen Invasion zerstört wurde. Heutzutage sind deren Überreste ein beliebter Ruheplatz für RadfahrerInnen, hat man doch von den dortigen Hügeln einen wunderbaren Blick auf die Landschaft am Fluss Udy. 

Im 17. Jahrhundert siedelten sich die ersten Kosaken in der Region an, und die Stadt Charkiw bildete sich als Hauptstadt eines Kosakenregiments der Sloboda-Ukraine aus. Eine Festung mit unterirdischen Zugängen wurde errichtet, in deren Umkreis nach und nach die Siedlung heranwuchs.

„Als die Kosakenheere aufgelöst wurden, erhielt die Region Charkiw den Status eines zaristischen Gouvernements und unterlag somit den im Russischen Reich geltenden Gesetzen. Das war der Startschuss für eine echte Stadtplanung: Man begann, die Straßen zu pflastern, und die Stadt zog aufgrund ihrer günstigen Lage viele Händler an. All das wirkte sich günstig auf eine schnelle Entwicklung aus”, sagt der Charkiwer Historiker Anton Bondarjew.

1805 wurde auf Initiative des Gelehrten Wasyl Karasin eine Universität begründet, die ihrerseits zum Gedeihen der Stadt beitrug.

 „Es war die einzige Universität in den südlichen Provinzen, viele junge Menschen kamen zum Studieren nach Charkiw. Wohnheime gab es keine, der Markt für Immobilien wuchs also rasch. Die Universität beförderte auch die Herausbildung der Druckbranche. In der universitätseigenen Druckerei wurde beispielsweise ein grundlegendes Werk zur Militärgeschichte der Donkosaken gedruckt: hier war also jemand vom Don aktiv”, fügt Bondarjew hinzu.

Ausblick auf die Stadt. Foto: Ihor Leptuha

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts belegte Charkiw den dritten Rang unter den wichtigsten Metropolen des Russischen Reichs. Häuser und Wohnungen kosteten hier oft mehr als in Moskau oder Sankt-Petersburg. Das trug zu einer gewissen Abgehobenheit der Stadt bei.

„Eine populäre Kindergeschichte begann mit den Worten: „Wie gut haben wir es, wir Leute von Charkiw, dass wir in dieser Zeit leben. Wir leben wie in Christi Armen. Keinem wird sein Besitz geraubt, niemandem die Freiheit, sein Handwerk zu wählen, beschnitten. Gott ist hoch oben, der Zar fern, der Adel im Umland handzahm und das gerecht strafende Gericht vor unserer Haustür”, zitiert Bondarjew.

In der Sowjetunion wuchs die Stadt weiter rasant. Zusätzlich zu neuen Wohngebieten wurden nicht nur große Fabriken und Forschungszentren errichtet, sondern auch Theater gebaut und Parks angelegt. Auf dem zentralen Platz entstand das Derschprom-Gebäude, einer der ersten Wolkenkratzer der UdSSR.

Für einen Zeitraum von 15 Jahren, von der Bolschewistischen Besetzung 1919 bis 1934, war Charkiw sogar die Hauptstadt der Ukrainischen Sowjetrepublik. Heute machen die CharkiwerInnen von jeder Gelegenheit Gebrauch, sich als EinwohnerInnen der „ersten Hauptstadt der Ukraine” zu bezeichnen, wobei sie das Attribut „sowjetisch” aber gern unter den Tisch fallen lassen.

Riesenrad im Gorky Park, Charkiw. Foto: Ihor Leptuha

Parks und Korruption 

Heutzutage ist Charkiw nach seiner Bevölkerungszahl die zweitgrößte Stadt der Ukraine. Charkiw ist dynamisch, vielseitig, überraschend und, kaum anders als vor hundert Jahren, noch immer leicht abgehoben und ein wenig dünkelhaft.

BesucherInnen, besonders solche aus der Hauptstadt Kyjiw, zeigen sich beeindruckt von der Sauberkeit der Stadt: Die zentralen Straßenzüge werden von Heerscharen städtischer Angestellter gepflegt, nachts ist das Stadtzentrum hell erleuchtet. Seit einigen Jahren erlebt die Stadt einen wahren Bauboom, Hochhäuser und mehrstöckige Bürogebäude schießen wie Pilze aus dem Boden.

Die Altbauten haben dagegen trotz der dreihundertjährigen Stadtgeschichte einen immer schwereren Stand. Viele verkommen zu Ruinen, und oft entstehen dann an ihrer Stelle die ewig gleichen Glas- und Betonbauten. Die CharkiwerInnen scherzen traurig, bald werde es wohl nur noch einen einzigen Straßenzug geben, von dem sich ein schönes Bild für Instagram aufnehmen lässt.

Das dritte Mal in Folge wurde bei den Lokalwahlen Bürgermeister Hennadij Kernes ins Amt gewählt. Kernes ist aber nicht nur bei den BürgerInnen populär, sondern auch bei LokaljournalistInnen und Anti-KorruptionsaktivistInnen.

Seitdem er im Amt ist, hat sich Charkiw äußerlich stark verändert, zumindest von seiner Schokoladenseite gesehen. Der Stadtrat nahm Parks wieder in Betrieb, setzte zentrale Straßen instand und richtet ständig für die lokale Bevölkerung Feste und Feiern aus. Doch Anti-KorruptionsaktivistInnen warnen davor, alle Veränderungen in der Stadt der lokalen Politik und Verwaltung zuzuschreiben.

„Wir sehen zumindest drei Ebenen, auf denen die Lokalregierung Verantwortung trägt oder auf die sie großen Einfluss hat”, sagt Wolodymyr Rysenko, Jurist am Charkiwer Antikorruptionszentrum. „Zunächst ist da die Wirtschaft in Charkiw, von der die Einkommen der Bevölkerung abhängen. Hier hat der amtierende Bürgermeister nach meiner Einschätzung komplett versagt. In sämtlichen Bereichen, in denen er Verantwortung trägt, im Grundstückswesen, bei der Auftragsvergabe für Investitionen aus dem städtischen Haushalt, bei kommunalen Versorgern etc., läuft es wirtschaftlich sehr schlecht, jedoch gut für den Bürgermeister. So wurden etwa in der ganzen Zeit keine Grundstücke in öffentlichen Versteigerungen veräußert. Über 1000 Hektar Land aus dem Kooperativensystem wurden unter Personen verteilt, die der Lokalpolitik nahestehen, ferner in einem kleinen Kreis von Projektentwicklern und anderen handverlesenen Kandidaten. Öffentliche Schätzungen beziffern die Verluste für den städtischen Haushalt auf 4,3 Milliarden Hrywnja, die sich wohl jemand in die Tasche gesteckt hat”, so Rysenko.

Swoboda-Platz im Zentrum von Charkiw. Foto: Ihor Leptuha

Die zweite Ebene beschreibt Rysenko als die Ebene der Lebensqualität, wozu er Gesundheitsversorgung, Infrastruktur, den öffentlichen Nahverkehr und die kommunalen Versorger zählt. Auch hier zeigen sich in Charkiw Probleme: In jedem Winter bersten große Leitungen, sodass ganze Stadtteile ohne Heizung und warmes Wasser auskommen müssen.

„Die dritte Ebene schließlich ist Charkiws schönes Gesicht, seine Plätze und Parks. Seit 15 Jahren werden hierfür riesige Summen aufgewendet. Auf den Gorki-Park, an den sich viele BesucherInnen beim Gedanken an Charkiw erinnern, sind auch viele CharkiwerInnen stolz. Allerdings erhielt die Stadt inzwischen eine Vorladung von der Bank, die die Rückzahlung von Kreditkosten für die Umbau in Höhe von 272 Millionen Hrywnja fordert. Sicher sind der Schewtschenko-Garten, Sarschyn Jar und der monumentale Brunnen vor dem Derschprom-Gebäude eine Zierde für Charkiw, aber letztendlich ist das eben nur Fassade.

Dahinter verbirgt sich eine enorme und vor allem monopolisierte Korruption und Ineffizienz. Und nicht einmal die Fassade stimmt: Der Zoo, dessen Bau seit 2017 knapp zwei Milliarden Hrywnja verschlungen hat, ist noch nicht ansatzweise fertig. Seit der Organisator dieses Systems, Bürgermeister Kernes, in der Berliner Charité liegt, wo er wegen seiner COVID-19-Erkrankung behandelt wird, zeigen sich Zerfallserscheinungen im System. Und aus den genannten Gründen beginnen jetzt auch die ersten Prozesse gegen kommunale Versorger.”

Es sind die BürgerInnen selbst, die aktiv werden und in der Stadt wirklich etwas zum Besseren wenden. In den vergangenen Jahren fanden in Charkiw etliche große Kulturfestivals statt. Der jährliche Tag der Musik, anlässlich dessen hunderte von Musikern und Bands in den Straßen der Stadt spielen, ist bereits Tradition.

Einmal im Jahr ist das Stadtzentrum lahmgelegt. Musiker, Tänzer, Schauspieler und Künstler bespielen jeden freien Winkel. Von überall her tönt Musik, es wird ein großes Fest gefeiert.

Den städtischen Haushalt belastet dieses Fest nicht, denn es wird von ausländischen Geldgebern über Projektmittel finanziert. Seine Organisatoren zögern, mit den offiziellen Stellen zusammenzuarbeiten, denn sie befürchten einen Vertrauensverlust ihres Publikums.

Charkiw von oben. Foto: Ihor Leptuha

Der natürliche Hilfskreislauf

Als in der Ukraine der Krieg ausbrach, zeigte sich, dass das Militär nicht gerüstet war, die Staatsgrenzen zu verteidigen. Vor den Registrierungsstellen der Armee bildeten sich in Charkiw wie im ganzen Land lange Schlangen aus Freiwilligen.

Vom ersten Tag an, wobei keiner wusste, wie sie an Informationen zu den Stellungen gekommen waren, rollten auch ganze Lawinen voll beladener Autos mit Lebensmitteln und Werkzeugen zu den Armeeeinheiten, die auf diesen Krieg so gar nicht vorbereitet waren. Die Menschen brachten Konserven, Süßigkeiten, warme Kleidung, Schuhe.

Im weiteren Verlauf organisierte sich die Freiwilligenbewegung. Es konnten Splitterschutzwesten, Quadcopter und Ferngläser beschafft und dem Militär übergeben werden. Alle steuerten etwas bei, von den großen IT-Unternehmen mit einem Jahresumsatz in Millionenhöhe bis zu den RentnerInnen, die nur wenig mehr als hundert Euro im Monat bezogen.

Im April 2014 kamen dann die ersten Geflüchteten aus dem besetzten Donbas nach Charkiw. Man sah sie auf den Bahnhöfen, zumeist verstörte und verunsicherte Familien mit kleinen Kindern und Taschen voller hastig zusammengeraffter Dinge. Auch dort halfen Freiwillige weiter.

Eine von ihnen ist Julija Pimenowa, eigentlich als Managerin in der Kommunikationsabteilung einer großen Firma tätig, vielen in Charkiw aber nur als diejenige bekannt, die als Freiwillige unzähligen Geflüchteten geholfen hat. Ihre KollegInnen nennen sie ob ihrer unermüdlichen Tatkraft nur „Biene”.

Für Julija hatte der Krieg bereits vor der Besetzung der Krim und des Donbas begonnen. Als die Spezialkräfte das Feuer auf die Demonstranten des Maidan eröffneten, packte Pimenowa einen Notfallrucksack, der enthielt, was ihre Familie am nötigsten brauchte.  Der Rucksack stand noch lange im Flur ihrer Wohnung, denn die „Biene” kam nicht dazu, ihn wieder auszupacken, so sehr engagierte sie sich dafür, dass anderen geholfen wurde.

„Unsere Freiwilligenorganisation 'Stanzija Charkiw' gründete sich, um den Geflüchteten aus den besetzten Regionen der Ukraine zu helfen. Die Menschen waren vor dem von der Russischen Föderation vom Zaun gebrochenen Krieg geflohen, wobei sie ihre Häuser, ihre Arbeit, häufig ihre Angehörigen und auch ihre Haustiere hatten zurücklassen müssen. Sie mussten überstürzt fliehen, nachdem sie bereits ohne wirklichen Schutz vor Luftangriffen in Kellern ausgeharrt hatten oder auf der Straße beschossen worden waren. Die Geflüchteten erreichten eine fremde Stadt, ohne Papiere, Geld, Telefon, manche buchstäblich in Hausschuhen.

Das staatliche System war damals nicht in der Lage, den Menschen beizustehen, und sei es auch nur für die erste Zeit, etwa mit Notunterkünften, Nahrung und Medikamenten. Als der Zustrom anschwoll, schlossen sich die Charkiwer BürgerInnen zusammen um zu helfen, jeder, wo und wie er konnte. Manche nahmen eine Familie mit Kindern bei sich zu Hause auf, andere brachten Lebensmittel und Hygieneartikel, andere halfen bei der Beschaffung von Papieren.

Wir Freiwilligen hatten mit einer Krisensituation diesen Ausmaßes keinerlei Erfahrung, wir erfanden also unsere eigenen Lösungen. Wir schrieben Posts bei Facebook, mit der Bitte, die Kriegsflüchtlinge in Charkiw mit dem Nötigsten zu versorgen. Die BürgerInnen von Charkiw engagierten sich sehr aktiv, so dass wir viele damals versorgen konnten, ob mit Zahnbürsten oder mit kostenlosen  Wohnungen.

JournalistInnen veröffentlichten Listen mit benötigten Gegenständen, und sogar ganz alte Menschen, die kaum noch gehen konnten, kamen mit Wägelchen voller Bettzeug oder Büchern zu unseren Sammelstellen. Nie werde ich die alte Dame vergessen, die mit einer angebrochenen Packung Buchweizengrütze kam und verschämt sagte, sie habe ein bisschen für sich behalten, ihre Pension sei sehr klein, aber den Rest wolle sie den Menschen geben, sie habe den Zweiten Weltkrieg erlebt und wüsste, was sie durchmachten”, erzählt Julija, die „Stanzija Charkiw” mitbegründet hat.

Irgendwann beruhigte sich die Lage. Die Armee bekam auf offiziellem Wege Unterstützung und Versorgung durch den Staat, die Binnenflüchtlinge fanden Wohnungen und Arbeit.

Doch als 2020 die COVID-19-Pandemie ausbrach, wurde klar, dass das Gesundheitssystem dieser nicht würde standhalten können. Die Freiwilligen schritten erneut zur Tat. Junge IngenieurInnen vom Garage Hub tüftelten aus, wie man Schutzkleidung für Ärzte anfertigen und Masken mit 3-D-Drucken herstellen konnte. IT-Spezialkräfte nahmen Geld in die Hand, kauften Beatmungsgeräte und legten Sauerstoffleitungen in den Charkiwer Krankenhäusern an. Medizinstudierende meldeten sich als Hilfskräfte auf den Coronastationen.

„Am 1. Juli 2014 beschloss ich, die Freiwilligen einen Tag lang zu unterstützen, anzupacken, mich irgendwie einzubringen. Aus diesem einen Tag sind etliche Jahre meines Lebens geworden,” sagt Julija Pimenowa. Als sie damals in die müden Gesichter der Erwachsenen und Kinder schaute, die vor dem Krieg geflohen waren, stellte sie sich vor, an ihrer Stelle zu sein. „Ich dachte, wenn es mir mal so geht, dann möge da bitte auch jemand sein, der mir und meinem Kind hilft. Und das war für mich Grund genug, einen solchen quasi natürlich Hilfskreislauf aktiv in Gang zu setzen”, fasst Julija zusammen.

Julija Pimenowa. Foto: Ihor Leptuha

Der Sturz der alten Idole

In den Sommernächten des Jahres 2014 fielen Charkiws Denkmäler aus der Sowjetzeit. Ukrainische AktivistInnen in Sturmhauben stießen sie von ihren Sockeln. Am 28. September stürzten BürgerInnen das größte Lenindenkmal des Landes auf dem zentralen Platz der Stadt. Lenins Nase, seine Ohren und der Bart wurden ihm von den AktivistInnen als Souvenirs abgeschlagen, den Körper ließ die Stadtverwaltung an einen unbekannten Ort verbringen. Bürgermeister Kernes kündigte an, die Statue wieder aufstellen zu wollen, doch sechs Jahre später wurde an ihrer Statt ein weiterer Brunnen gebaut.

Nach diesem Vorfall begann die Dekommunisierung von Straßen- und Distriktnamen als gemeinsame Initiative der Stadtregierung und der Kommunalverwaltungen. Noch immer spüren AktivistInnen die Hinterlassenschaften der UdSSR in Ortsnamen und architektonischen Zeugnissen auf und fordern bei lokalen Autoritäten die Tilgung sowjetkommunistischer Symbole ein.

Die BürgerInnen reagierten auf die Dekommunisierung überwiegend gelassen, aber ohne Begeisterung. Mittlerweile hat man sich an die neuen Namen gewöhnt, und auch die Taxifahrer sagen jetzt „Freiheitsstraße” zu der zuvor nach dem sowjetischen Funktionär Petrowski benannten Adresse. Einige CharkiwerInnen waren erbost über die Zerstörung des kommunistischen Erbes, andere wiederum freuten sich, die Mehrheit nahm es schweigend hin.

Wadym Posdnjakow steht für diejenigen, denen nicht alles einerlei ist. Der schlanke, junge Mann, der oft auf pro-ukrainischen Demonstrationen anzutreffen ist, kämpft seit sechs Jahren gegen die Spuren des sowjetischen Regimes. Alle pro-ukrainischen AktivistInnen in der Stadt wissen: Ein Hammer und eine Sichel an einem Gebäude? Nachricht an Wadym.

Im Juli 2018 wurden Wadym und seine Freundin Mila von Unbekannten überfallen. Sie brachen ihm den Kiefer und schlugen ihm ein Auge aus, doch der junge Mann setzt seinen Kampf für die Dekommunisierung fort.

Wadym Posdnjakow. Foto: Ihor Leptuha

 

„Der Wunsch, dazu beizutragen, kam bei mir schon einige Jahre vor dem Maidan auf. Ich war damals frisch an der Uni und erstaunt, dass wir in Charkiw 20 Jahre nach der Unabhängigkeitserklärung noch immer durch Straßen liefen, die den Namen der Mörder des Holodomor, des von Stalin angeordneten Massenmordes durch Hungersnot, oder der sowjetischen Ideologen trugen. Was hat Lenin mit Charkiw zu tun, dass wir ihn hier mit einem solchen Monument ehren, noch dazu im Herzen der Stadt? Er ist kein einziges Mal hier gewesen. Und die Vernichtung des ersten ukrainischen Nationalstaats, der Ukrainischen Volksrepublik, geht auf seine Bemühungen zurück. Besonders zynisch fand ich, dass in einer vom Holodomor so schwer getroffenen Region ein Denkmal für Postyschew, einen seiner Initiatoren stehen sollte, und dass andere Schuldige über Straßennamen unsterblich gemacht werden. Der Wunsch, dagegen etwas zu unternehmen, war da, aber unter Janukowytsch ging nichts”, so Wadym, der die NGO „Switanok“ leitet, die sich aktiv um die Dekommunisierung bemüht.

Wadym meint, inzwischen sei der Prozess in der Region fast abgeschlossen, ein paar Dutzend Straßen müssten noch umbenannt und etwa 30 Objekte entfernt werden. In Charkiw allerdings sei alles etwas komplizierter, die Dekommunisierung verliefe schleppend, und es gäbe in der Stadt noch an die hundert Objekte, die abgebaut werden müssten. Ein besonderes eindrückliches Beispiel ist das Gebäude des Stadtrats, dessen Fassade und Vestibül bis heute sowjetische Symbole zieren.

„Die Behörden reagieren sehr unterschiedlich. Es hängt letztlich davon ab, welche Ansichten der jeweils vor Ort Zuständige selbst hat. Es kann vorkommen, dass ein Abbau oder eine Umbenennung eine Sache von Tagen sind, manchmal dauert es Jahre. In manchen Fällen kommen wir gar nicht voran. Den Leuten ist das zumeist egal. Aktive Gegner und aktive Unterstützer der Dekommunisierung sind jedenfalls in unserer Region in der Minderheit”, berichtet Posdnjakow.

Charkiw ist eine Stadt voller Kontraste. Jedem Versuch, sie von außen her zu verändern, widersteht die Stadt aus dem Gefühl ihrer Einzigartigkeit und ihren Hauptstadtansprüchen heraus. Doch der Wind der Veränderung bläst von innen: Charkiw wird in Bewegung gesetzt von AktivistInnen und gesellschaftlichen Organisationen, die die Spuren der Sowjetzeit aus dem Stadtbild tilgen und so das Weltbild der BürgerInnen verändern.

Aus dem Ukrainischen von Beatrix Kersten.

Den ersten Teil der Serie #RegioUkraine aus Mykolajiw lesen Sie hier.

Den zweiten Teil der Serie #RegioUkraine aus Slowjansk lesen Sie hier

Den dritten Teil der Serie #RegioUkraine aus Uschhorod lesen Sie hier

Den vierten Teil der Serie #RegioUkraine aus Odessa lesen Sie hier

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