#RegioUkraine. Lwiw: Wofür diese alte Stadt kämpft und wovon sie lebt

Grafik: Olga Shchelushchenko

Unsere Serie #RegioUkraine porträtiert die Regionen der Ukraine. Die AutorInnen geben Einblicke in die prägenden Entwicklungen ihrer Heimat. Wir konzentrieren uns auf die acht Regionen, in denen die Kyjiwer Gespräche in den letzten Jahren aktiv sind. Im sechsten Teil geht es um die Oblast Lwiw.

RegioUkraine erscheint in Kooperation mit "Ukraine verstehen“. 

Von Kateryna Rodak, Lwiw

Die Region Lwiw gilt als eine der am besten entwickelten Regionen der Ukraine in wirtschaftlicher, kultureller wie touristischer Hinsicht. Trotz ihrer unglaublichen Landschaften, ihres reichen kulturellen Erbes und der Dynamik ihrer Kreativindustrie leidet die Region aber unter einem Mangel an hochwertiger Infrastruktur und der Abwanderung von Arbeitskräften.

Lwiw ist eine Stadt mit Seele, wo es sich gut leben lässt. Es regnet hier häufig, in den schmalen Gassen liegt Kaffeeduft und StraßenmusikerInnen sorgen für entspannte Atmosphäre. Lwiw ist eine Stadt mit einer reichen Geschichte. Es zieht sie nach Europa, und in ihrer Entwicklung orientiert sie sich am Vorbild erfolgreicher europäischer Städte. Aber die Stadt hat durchaus ihre Eigenheiten und viele Probleme, die noch adressiert werden müssen.

Lwiw hat sein besonderes Flair darin gefunden, sich aktiv der Gastlichkeit zu verschreiben. In Lwiw gibt es so viele Restaurants und Cafés, dass sich StadtführerInnen schon darauf spezialisiert haben, gastronomische Touren anzubieten. Dabei geht es aber nicht nur um köstliches Essen, sondern auch um das originale Interieur vieler Lwiwer Cafés. In den letzten Jahren wurden zudem viele Pubs eröffnet, wo Craft-Biere aus lokaler Herstellung serviert werden. Die LwiwerInnnen haben sowieso ein Faible für Produkte aus der Region, und wenn sie die Wahl haben zwischen Massenware und Nischenprodukten aus lokalen Manufakturen, dann entscheiden sie sich stets für letzteres.

Lwiw rühmt sich einer großen architektonischen Vielfalt. In der Altstadt haben Österreich-Ungarn und Polen, zu deren Reichen die Region einst gehörte, ihre Spuren hinterlassen. Die neueren Stadtviertel sind zu Sowjetzeiten entstanden, dort finden sich auch viele hochwertige Zeugnisse des Modernismus.

Eine typische Straße in Lwiw. Foto: Ruslan Humenyuk

„Lwiw ist eine Perle der Authentizität und eine Enzyklopädie der Stilkunde. In jedem Winkel stößt man auf Fresken. Unter jedem Torbogen öffnet sich ein Märchenland, und die Wohnungen in diesen Häusern sind gemeinhin großartig. In Lwiw kann man jeden Stil antreffen, wenn nicht im Original, dann in einer Anverwandlung”, sagt die Lwiwer Stadtführerin Tetjana Kasanzewa. 

Tetjana Kasanzewa ist keine typische Führerin, denn sie zeigt die Stadt nicht ihren BesucherInnen, sondern den EinwohnerInnen selbst. Sie führt Menschen unter die Torbögen der historischen Gebäude, durch die Gassen und Parks, über Friedhöfe und Dächer. Oft nimmt sie ihre weiße Katze mit auf die Spaziergänge und bietet mit Korallenkette und Hut das typische Bild einer Lwiwerin aus dem 19. Jahrhundert.

„Die Menschen wohnen in diesen Stadtpalästen und wissen gar nicht immer, was für ein Glück das eigentlich ist. Aber wenn man ihr Interesse weckt, verlieben sie sich in die authentischen Details. Dann kann es vorkommen, dass sich BewohnerInnen untereinander auszutauschen beginnen über das Leben in ihrem Haus, über das Leben ihrer Großmütter und Großväter dort. Und es ist wundervoll, dass die Gemeinschaft dieser Menschen wächst”, erzählt Kasanzewa. 

 

Tetjana Kasanzewa. Foto: Ruslan Humenyuk

So ungeteilt wie Lwiws alte Architektur Bewunderung hervorruft, so kontrovers wird die moderne Entwicklung der Stadt gesehen. Viele junge Menschen leben in Lwiw, junge Familien ziehen zu und Studierende kommen zum Studium in die Stadt. Zunächst wohnen sie zur Miete, dann kaufen sie sich Wohnraum. Gleichzeitig wird es durch die Attraktivität der Stadt für TouristInnen immer üblicher, eine Wohnung zu kaufen, um sie danach zu vermieten. Durch die angespannte Lage auf dem Wohnungsmarkt entstehen immer mehr Hochhäuser. Allein im Jahr 2019 wurden in Lwiw 95 neue mehrstöckige Wohnbauten genehmigt. Die Infrastruktur der Stadt aber kann mit diesem Bauboom nicht mithalten. 

Themen wie Parkplatzprobleme, Staus und fehlende Kindergartenplätze prägen häufig die Lwiwer Stadtgespräche. Vor einigen Monaten mussten die Behörden aufgrund von akuten Infrastrukturproblemen in einem Stadtviertel sogar den Bau neuer Wohnhäuser aussetzen.

IT-City Lwiw

Seit 2010 entwickelt sich die IT-Branche in Lwiw in rasantem Tempo. Die Stadt richtete sich damals gezielt auf junge, kreative Fachleute aus und legt ihre Entwicklung so an, dass sich genau diese Gruppe angesprochen und angezogen fühlt, in der Stadt zu leben, zu arbeiten und zu konsumieren. Derzeit sind in Lwiw etwa 30.000 Menschen im IT-Bereich beschäftigt, die Stadt weist in Relation zur Einwohnerzahl die höchste Dichte an  IT-Spezialisten in der Ukraine auf. Hätte man der Bevölkerung vor 10 Jahren gesagt, dass sich ihre Stadt einmal so entwickelt, hätte das wohl niemand geglaubt.

„2010 war der hiesige Technologie-Standort unter den unbedeutendsten der Ukraine. Dann initiierte Lwiw ein IT-Cluster und fuhr eine sehr wettbewerbsorientierte Strategie mit starkem Schwerpunkt auf der IT-Industrie. Tägliche Arbeit mit der Ausrichtung auf die Entwicklung im IT-Bereich hat zehn Jahre später dazu geführt, dass wir ein rasantes Wachstum der Branche sehen, die dynamischste Situation in der Ukraine sind und IT-SpezialistInnen bei uns die besten Lebens- und Weiterentwicklungsbedingungen vorfinden. Aber dem gingen bereits etliche Projekte voran, vor allem im Bildungssektor, etwa wurden an den Lwiwer Universitäten entsprechende Studiengänge eingerichtet. Wir schaffen auch den Wohnraum für Branchenangehörige und stellen damit das aktive Engagement für und die Loyalität zu dieser speziellen Zielgruppe unter Beweis. Auch hält Lwiw seit Jahren einen IT-Kongress in englischer Sprache ab, der Spezialisten aus aller Welt anzieht”, berichtet Stepan Weselowsky, CEO des Lwiwer IT-Clusters über die Besonderheiten der Entwicklung in Lwiw.

Durch die Entwicklung der IT-Branche kamen nach Lwiw nicht nur Jobs mit guten Verdienstmöglichkeiten in großer Zahl, sondern es setzte auch ein wahrer Zustrom junger, kreativer Menschen ein, die sich gern für positive Veränderungen in der Stadt einsetzen.  

„Unter pragmatischem Blickwinkel bringt die Entwicklung der IT-Industrie ja nicht nur Jobs direkt in diesem Bereich, sondern entfaltet ihre Wirkung auch noch weit darüber hinaus. Unsere jährlichen Untersuchungen weisen nach, dass ein Job in der IT drei weitere Arbeitsplätze jenseits davon nach sich zieht. IT-SpezialistInnen verdienen weit über dem Durchschnitt und geben mehr aus, das schafft neue Arbeitsplätze. 75.000 Menschen stehen dank der IT-Industrie in unserer Stadt in Lohn und Brot. Das ist ein bedeutender Anteil der Lwiwer Bevölkerung”, analysiert Stepan Weselowsky.

Die Dynamik in der IT-Branche löste den Trend aus, auch für Bürojobs die Gehälter zu erhöhen. Weitsichtige ArbeitgeberInnen haben ein Interesse daran, dass ihnen ihre Angestellten nicht davonlaufen, um als MarketingmanagerInnen oder PersonalspezialistInnen für IT-Unternehmen zu arbeiten. Allerdings hat der IT-Boom auch zu einer Verteuerung bestimmter Dienstleistungen in Lwiw geführt. Auch die Mieten sind hoch, und Wohnungseigentümer verlangen eine Bezahlung häufig in Dollar statt in Hrywnja. Als Erklärung dafür wird dann häufig angeführt, dass auch bei deutlich überhöhten Beträgen früher oder später sich jemand aus der IT-Branche finden wird, der  bereit ist zu zahlen.

Stepan Weselowsky. Foto: Ruslan Humenyuk

Charakteristika und Herausforderungen der Region

Bis vor Kurzem war in der Region Lwiw wie in der ganzen Ukraine die schlechte Qualität der Straßen ein erhebliches Problem. Im zur Region gehörigen Teil der Karpaten gibt es viele wunderschöne Orte, die aber nur schwer erreichbar sind, so dass sich der Bergtourismus nicht richtig entwickeln konnte. Teilweise besteht dieses Problem fort, doch in letzter Zeit erhielten die Bergregionen eine bessere Infrastruktur, und ihre Bewohner entdeckten den Grünen Tourismus für sich. Slawsko, das beliebteste Dorf in den Lwiwer Karpaten, hatte bereits vor einigen Jahren damit begonnen, seine Marke zu bewerben und touristische Attraktionen und Bergwanderwege zu erschließen. Die Behörden vor Ort holten UnternehmerInnen ins Boot, die ihre Firmen im Dorf ansiedelten und für Steuereinnahmen seitens der Kommune sorgten. So verfügen die Verantwortlichen dort über die Mittel, ihre Infrastruktur weiterzuentwickeln und gute Fachleute anzuziehen. 

Die Region Lwiw braucht sich vor der Stadt Lwiw nicht zu verstecken, wenn es um Sehenswürdigkeiten geht. Ihre Anziehungskraft machen nicht nur die Berge, Naturschutzgebiete oder andere Naturschönheiten aus, es gibt auch 8.000 historische Monumente; ein Reichtum, der leider noch nicht die gebührende Wertschätzung erfährt und auch den Gemeinden vor Ort kaum bewusst ist, geschweige denn TouristInnen aus den großen ukrainischen Städten oder dem Ausland.

Die übergroße Mehrheit der Denkmäler in der Gegend – Burgen, Kirchen, Schlösser, Häuser – verfallene jedoch. Der Staat und die Kommunen haben nicht die notwendigen Mittel, sich angemessen um ihre Denkmäler zu kümmern. Um zum Erhalt des historischen und kulturellen Erbes der Region beizutragen, gründete sich vor zwei Jahren in Lwiw eine gemeinnützige Stiftung unter dem Namen „Spadschyna UA” (Kulturerbe UA), die Denkmäler vor der Zerstörung bewahren will.

Schloss Pomorjany. Foto: Ruslan Humenyuk

Eine Initiative der Lwiwer Aktivistin Hanna Hawryliw und einiger Gleichgesinnter machte es sich zur Aufgabe, das aus dem 16. Jahrhundert stammende Schloss im Dorf Pomorjany in der Region Lwiw vor dem Verfall zu retten. Das Schloss, einst Residenz von Jan III., König von Polen-Litauen, war zur Ruine verkommen. Die AktivistInnen versuchten, auf regionaler Ebene Gelder für seine Restaurierung einzuwerben und informierten gleichzeitig die lokale Bevölkerung über Soziale Medien darüber, welch interessantes historisches Objekt sich da in ihrer Mitte befand. Als die Rettung des Schlosses von Pomorjany zum populären Thema wurde, wurden auch die politisch Verantwortlichen auf das Vorhaben aufmerksam und bewilligten die ersten Gelder. Später stiegen Sponsoren mit ein.

„Zunächst wollten wir nur das Schloss von Pomorjany erhalten. Dann kam die Idee auf, eine gemeinnützige Stiftung zu gründen, die sich um viele historische Monumente würde kümmern können. Wir machten es zu unserer Mission, den Architekturdenkmälern neues Leben einzuhauchen. Wir begriffen, dass wir für deren physischen Erhalt würden sorgen müssen. Wir bemühen uns also immer, einerseits die Gelder für eine Restaurierung aufzutreiben, gleichzeitig aber auch die Objekte bekannt zu machen im informationellen Raum”, erzählt Hanna Hawryliw.

Das Schloss in Pomorjany entging so dem unwiederbringlichen Verfall, wenngleich noch viel zu tun bleibt, um es wirklich wieder herzustellen. Zur gleichen Zeit sanierte die Stiftung den anliegenden Park und rief dort ein kleines Museum ins Leben, um Menschen anzuziehen.

„Vor fünf Jahren wusste noch niemand von den Objekten, um die wir uns hier kümmern. Jetzt wissen die Menschen Bescheid, sie tauschen sich darüber aus und sie geben Geld für die Erhaltung”, sagt Hawryliw.

Momentan kümmert sich die Stiftung um vier Architekturdenkmäler in der Region Lwiw. Hanna Hawryliw berät zudem fortlaufend weitere Gemeinden zum Umgang mit ihren historischen Stätten und lässt sie an ihren Erfahrungen teilhaben, wie deren Bekanntheitsgrad gesteigert werden kann.

Hanna Hawryliw. Foto: Ruslan Humenyuk

Eine Initiative der Lwiwer Aktivistin Hanna Hawryliw und einiger Gleichgesinnter machte es sich zur Aufgabe, das aus dem 16. Jahrhundert stammende Schloss im Dorf Pomorjany in der Region Lwiw vor dem Verfall zu retten. Das Schloss, einst Residenz von Jan III., König von Polen-Litauen, war zur Ruine verkommen. Die AktivistInnen versuchten, auf regionaler Ebene Gelder für seine Restaurierung einzuwerben und informierten gleichzeitig die lokale Bevölkerung über Soziale Medien darüber, welch interessantes historisches Objekt sich da in ihrer Mitte befand. Als die Rettung des Schlosses von Pomorjany zum populären Thema wurde, wurden auch die politisch Verantwortlichen auf das Vorhaben aufmerksam und bewilligten die ersten Gelder. Später stiegen Sponsoren mit ein.

„Zunächst wollten wir nur das Schloss von Pomorjany erhalten. Dann kam die Idee auf, eine gemeinnützige Stiftung zu gründen, die sich um viele historische Monumente würde kümmern können. Wir machten es zu unserer Mission, den Architekturdenkmälern neues Leben einzuhauchen. Wir begriffen, dass wir für deren physischen Erhalt würden sorgen müssen. Wir bemühen uns also immer, einerseits die Gelder für eine Restaurierung aufzutreiben, gleichzeitig aber auch die Objekte bekannt zu machen im informationellen Raum”, erzählt Hanna Hawryliw.

Das Schloss in Pomorjany entging so dem unwiederbringlichen Verfall, wenngleich noch viel zu tun bleibt, um es wirklich wieder herzustellen. Zur gleichen Zeit sanierte die Stiftung den anliegenden Park und rief dort ein kleines Museum ins Leben, um Menschen anzuziehen.

„Vor fünf Jahren wusste noch niemand von den Objekten, um die wir uns hier kümmern. Jetzt wissen die Menschen Bescheid, sie tauschen sich darüber aus und sie geben Geld für die Erhaltung”, sagt Hawryliw.

Momentan kümmert sich die Stiftung um vier Architekturdenkmäler in der Region Lwiw. Hanna Hawryliw berät zudem fortlaufend weitere Gemeinden zum Umgang mit ihren historischen Stätten und lässt sie an ihren Erfahrungen teilhaben, wie deren Bekanntheitsgrad gesteigert werden kann.

Lwiw. Foto: Ruslan Humenyuk

Die Abfallkrise

Vor vier Jahren ereignete sich im Dorf Welyki Hrybowytschi bei Lwiw eine Rutschung auf einer Müllkippe, wo seit 50 Jahren der Abfall aus Lwiw und umliegenden Gemeinden lagerte. Vier Menschen kamen dabei zu Tode, und der Vorfall zeigte, wie kritisch die Lage im Bereich Abfallentsorgung ist.

Die Deponie von Hrybowytschi wurde unmittelbar nach dem Vorfall permanent geschlossen. Es musste mit Deponien in anderen ukrainischen Städten verhandelt werden, auf denen der Müll aus Lwiw stattdessen entsorgt werden sollte, von dem immerhin 600 Tonnen täglich in der Stadt anfallen. Doch die Deponien lehnten es kategorisch ab, Abfälle aus Lwiw anzunehmen, denn die staatlichen Autoritäten und der Lwiwer Bürgermeister lagen politisch über Kreuz. In der Konsequenz drohte Lwiw förmlich im Müll zu ersticken. Während mehrerer Monate, darunter auch der heiße Sommer, wurde kaum Müll aus der Stadt abtransportiert. Neben den Lwiwer Mülltonnen türmten sich Berge von Abfällen, und die Lage in der Stadt war sehr angespannt.

Über politische Abkommen konnte die Müllentsorgungsproblematik schließlich gelöst werden. Danach nahmen die Lwiwer Behörden das Projekt der ersten ukrainischen Müllverbrennungsanlage in Angriff. Der Baubeginn ist für das Jahr 2021 geplant. Parallel dazu läuft die Rekultivierung der ehemaligen Deponie. In einigen Jahren soll dort ein Park entstehen.

Die Zivilgesellschaft

Es gibt viele Beispiele für erfolgreiche Bürgerbeteiligung in Lwiw und anderen großen Städten der Region. So können die BürgerInnen von Lwiw, Drohobytsch und Schowka Petitionen an ihre Stadträte richten und sich an einem Wettbewerb für Projekte beteiligen, die im Rahmen eines Bürgerbudgets in den städtischen Haushalt eingebracht werden können. Dieser Wettbewerb ist in Lwiw sehr beliebt, die BürgerInnen  stimmen ab und überwachen die Implementierung ihrer Projekte.

Die LwiwerInnen können zudem jederzeit mit der Regierung kommunizieren und Entscheidungen beeinflussen, indem sie an Sitzungen der Räte, Ausschüsse oder Exekutivkomitees teilnehmen. Alle Sitzungen werden live übertragen und Entscheidungen sofort öffentlich bekannt gemacht. Schon seit vielen Jahren wird in Lwiw eine Hotline betrieben, über die Beschwerden von Lwiwer BürgerInnen, ganz gleich zu welchem Thema, aufgenommen und weitergeleitet werden. Seit zwei Jahren gibt es eine an die Hotline angegliederte Facebook-Gruppe, die den BürgerInnen die einzigartige Gelegenheit bietet, ihre Anliegen zu visualisieren. Sind sie unzufrieden über ein Schlagloch in einer Straße oder einen ungepflegten Bürgersteig, können sie ein Foto posten und so nicht nur eine Lösung herbeiführen, sondern auch eine direkte Stellungnahme des in der Stadtverwaltung Zuständigen in Form eines Kommentars unter ihrem Post bekommen.

In den meisten Kommunen der Region Lwiw ist die Lage in Bezug auf eine Beteiligung der Öffentlichkeit aber noch nicht so weit gediehen. Darum haben die Kyjiwer Gespräche im vergangenen Jahr vier in dieser Hinsicht wenig aktiven Städten ein Trainingsprogramm zu Instrumenten der Bürgerbeteiligung angeboten, das sechs Trainings in Seminarform umfasste. Die Teilnehmenden konnten das Gelernte gleich umsetzen, indem sie sich am Wettbewerb der Kyjiwer Gespräche zur Förderung kleiner Projekte beteiligten. Alle teilnehmenden Städte implementierten die vorgeschlagenen Instrumente, und die Kyjiwer Gespräche unterstützten diesen Prozess im laufenden Jahr weiter.

 Die Probleme auf dem Arbeitsmarkt

Die Region Lwiw wird stark durch die Nähe zur Grenze zu Polen geprägt. Diese stimuliert die Arbeitsmigration, wie sie in den ukrainischen Grenzregionen Tradition ist. Menschen aus den Dörfern und Kleinstädten, aber auch ein kleiner Teil der Lwiwer Bevölkerung geht zeitweise in die Europäische Union zum Arbeiten oder wandert auch dauerhaft aus. Vor einigen Jahren wurden in der Region Fabriken für große Autozulieferer gebaut, und die Behörden warben bei den Menschen dafür, sich vor Ort in der Ukraine um die Jobs zu bewerben. Leider fruchtete dies nicht, denn in ähnlichen Fabriken in Polen oder Deutschland sind die Löhne höher, die Menschen bemühen sich also weiterhin um einen Arbeitsplatz im Ausland.

In den Sommermonaten zeigt sich ein weiterer interessanter Trend auf dem Arbeitsmarkt.

Die FahrerInnen öffentlicher Verkehrsmittel aus Lwiw und der Region gehen ins europäische Ausland, um Saisonarbeit zu leisten. Sie gehen in Gruppen und bleiben ein bis zwei Monate. Manager und Planer müssen Ersatz für das Personal suchen, und es kommt vor, dass Strecken gekürzt oder gestrichen werden, wenn sie nicht mehr bedient werden können.

In den direkt an der Grenze gelegenen Siedlungen leben die Menschen überwiegend vom Schmuggel. Dieses Problem besteht seit Jahrzehnten: Eltern überqueren mit ihren Kindern zu Fuß oder mit dem Minibus die Grenze mit einigen Stangen Zigaretten im Gepäck, verkaufen diese und kehren zurück. Wenn die Kinder erwachsen werden, behalten sie diese Praxis bei. Mit dem Schmuggel, nicht nur von Zigaretten, verdienen die Menschen mehr als in der Fabrik oder am Schreibtisch in einem Büro. So rechtfertigen sie auch ihren Unwillen, von diesem Lebensstil zu lassen.

Hin und wieder werden Schmuggler von Grenzbeamten oder vom Zoll aufgegriffen, aber von einem systematischen Vorgehen gegen dieses Phänomen ist man noch weit entfernt. So lange die Menschen keine Alternative haben und versucht sein können, es darauf ankommen zu lassen, weil kaum jemand bestraft wird, wird das System funktionieren.

In diesem Kontext muss aber auch daran erinnert werden, dass sich die Grenznähe zur Europäischen Union auf die Entwicklung der Region in touristischer Hinsicht sehr positiv auswirkt. Vor dem Lockdown im Frühjahr lag das Passagieraufkommen am Lwiwer Flughafen um 50 % höher als noch im Vorjahr. Internationale Airlines und Reisebusunternehmen haben Lwiw für sich entdeckt. Die Stadt steigert ihre Attraktivität in der weltweiten Tourismusindustrie und erntet dafür unzweifelhaft Vorteile.

Als Region mit einer reichen Geschichte ist die Region Lwiw traditionsverbunden, aber durch die Nähe zu anderen europäischen Ländern auch offen für den Austausch von Erfahrungen und für neue Entwicklungen. Darüber lässt sich nachsinnen bei einer Tasse Kaffee auf dem Marktplatz von Lwiw, wo einem die Stadt, gewebt aus den Fäden ihrer multikulturellen Vergangenheit, ihre Geheimnisse zuflüstert, wo sich aber auch zeigt, wie sie den Herausforderungen der Gegenwart begegnet.

Aus dem Ukrainischen von Beatrix Kersten.

Den ersten Teil der Serie #RegioUkraine aus Mykolajiw lesen Sie hier.

Den zweiten Teil der Serie #RegioUkraine aus Slowjansk lesen Sie hier

Den dritten Teil der Serie #RegioUkraine aus Uschhorod lesen Sie hier

Den vierten Teil der Serie #RegioUkraine aus Odessa lesen Sie hier

Den fünften Teil der Serie #RegioUkraine aus Charkiw lesen Sie hier

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