Die Welt wurde sich der Existenz von Slowjansk im April 2014 bewusst, als nicht identifizierte, vermummte Bewaffnete strategisch wichtige Orte in der Stadt besetzten und ein Referendum über eine Föderalisierung verlangten. Die ukrainische Nationalflagge wurde vom Gebäude des Stadtrats entfernt, stattdessen flatterten dort die Fahnen der „Donezker Volksrepublik” und der Russischen Föderation.
Diesen Ereignissen vorausgegangen waren zahlreiche Anti-Regierungsproteste in den Städten der Oblaste Donezk, Luhansk und Charkiw. GegnerInnen der Kyjiwer Maidan-Revolution verlangten eine Anerkennung der Autonomie der Region, Schutz für die russischsprachige Bevölkerung und Freundschaft mit Russland. In Slowjansk lösten sie damit eine militärische Konfrontation aus. Um die separatistische Bewegung zu unterdrücken, kündigte die ukrainische Führung eine Anti-Terror-Operation an. Heftige Kämpfe brachen in und um die Stadt herum aus, zwischen den bewaffneten Befürwortern der Föderalisierung unter Führung russischer Militärs und der ukrainischen Armee.
Die Kämpfe dauerten an, bis die Separatisten sich schließlich zum Verlassen der belagerten Stadt und zur Flucht nach Donezk gezwungen sahen. Die Nationalflagge wurde wieder gehisst. Die Kontrolle der ukrainischen Zentralregierung wurde auch in den umliegenden Städten wiederhergestellt, so in Kramatorsk, Mykolajiwka, Kostjantyniwka und Druschkiwka, wo die separatistische Bewegung ebenfalls niedergeschlagen wurde.
Ein Leben nach dem Krieg
Seit dieser Zeit hat das begonnen, was die Einheimischen „nach dem Krieg” nennen, ein anderes, neues Leben im Donbas. Stück für Stück fanden die Menschen zurück in eine friedliche Normalität.
Slowjansk hatte unter den Kampfhandlungen und dem Beschuss gelitten, und so begann man zunächst damit, zerstörten Wohnraum wieder aufzubauen und Land von Minen zu befreien, damit die Bevölkerung wieder sicher in ihre Häuser zurückkehren konnte. Dabei erhielten die Verantwortlichen viel Unterstützung von internationalen Spenden- und Freiwilligenorganisationen. Slowjansk gehörte die Aufmerksamkeit der Welt, die lange geschundene Stadt wurde zum Sinnbild für Sieg und Frieden in der Ostukraine.
Für die EinwohnerInnen der besetzten Gebiete der Oblast Donezk, die vor dem Krieg flohen, wurde Slowjansk erst zu einem Zufluchtsort, dann oft zur zweiten Heimat. Nach Slowjansk strömten die ersten Flüchtlingswellen aus Donezk, Horliwka und Makijiwka, wo die geflüchteten Separatisten neue Machtzentren geschaffen hatten. Für viele Geflüchtete ist die Stadt heute ihr neuer Lebensmittelpunkt.
Nicht nur für den Krieg bekannt
Viele assoziieren den Donbas mit Minen und Halden, doch lässt sich die Region beileibe nicht nur durch den Kohlebergbau charakterisieren. Sie ist vielmehr einer der urbanisiertesten Räume weltweit mit einer langen Geschichte und verwurzelten Kultur.
Slowjansk galt von jeher als Stadt der Händler und Salzsieder sowie als bedeutsames industrielles Zentrum und wichtiger Eisenbahnknotenpunkt.
Die Gründung der Siedlung ist eng verknüpft mit der aufkommenden Salzproduktion auf den Seen. Die ersten Bollwerke zum Schutz der Salzschöpfer vor Raubzügen der Tataren wurden 1645 angelegt, die massenhafte Besiedlung setzte ab 1676 ein, als anstelle einer kleineren Wehranlage die große Feste Thor errichtet wurde. 1773 hatte das zukünftige Slowjansk bereits 4000 EinwohnerInnen, wovon ein Drittel mit der Salzproduktion zu tun hatte. Heute zählt die Stadt um die 110 000 EinwohnerInnen.
Die Salzseen führten auch zur Entstehung eines berühmten balneologischen Kurorts. Vor dem Krieg waren dort vier Sanatorien auf die Behandlung und Rehabilitation von Menschen mit Erkrankungen des Bewegungsapparats spezialisiert.
Durch den Krieg ist die Nachfrage nach Kuraufenthalten drastisch gesunken und wegen wirtschaftlicher Schwierigkeiten sind die Slowjansker Sanatorien teilweise dem Verfall preisgegeben. Doch noch hegen die Stadt und die regionalen Autoritäten ehrgeizige Pläne zu ihrer Wiederbelebung.
Die Stadt ist außerdem auch heute noch bekannt für ihre Keramikerzeugnisse. Slowjansk verfügt nämlich über große Vorkommen eines speziellen Tons, der zur Herstellung von Spezialkeramik benötigt wird. Früher wurde hier Industriekeramik produziert (Kacheln, Sanitärprodukte, Hochspannungsisolatoren), nach dem Zerfall der Sowjetunion etablierte sich auch ein Markt für Haushaltsgüter wie Geschirr, Vasen und Geräte.
Andrij Mischtschenko, Vorsitzender des Slowjansker Verbands „Cluster Keramikregion”, meint ohne Übertreibung sagen zu können, die Produkte aus der Region würden mittlerweile in die ganze Welt exportiert, sogar nach Äthiopien, Neuseeland, Kanada und Brasilien. Der Hauptabsatzmarkt ist und bleibt allerdings Russland.
Die Keramikindustrie war 2005 auf ihrem Höhepunkt, als in Slowjansk 3000 Firmen auf unterschiedlichem Niveau in diesem Segment produzierten und 30 000 Menschen in der Produktion angestellt waren.
Zu einem erheblichen Anteil haben die Keramikhersteller die Wirtschaftskrise zu Anfang des 21. Jahrhunderts nicht überlebt und mussten ihre Produktion einstellen. Der Krieg versetzte der Industrie einen noch heftigeren Schlag. Nach der Befreiung konnten noch um die 400 Betriebe die Arbeit wieder aufnehmen. KreditgeberInnen und SponsorInnen stützten die Keramikproduzenten, von denen viele spezielle Hilfsprogramme für Unternehmer in Anspruch genommen haben.
Der Rajon Slowjansk war immer ein integraler Bestandteil der Stadt, nunmehr zeigt auch dort die Dezentralisierungsreform ihre Wirkung. Eigenständige Territorialgemeinden entstehen, und jedes Dorf, jede Siedlung ist gehalten, eigene finanzielle, personelle und infrastrukturelle Ressourcen zu erschließen. Einige der neu entstandenen Gemeinden haben die Vorzüge der Reform bereits erfahren, als zum Beispiel endlich die 30 Jahre alte Asphaltdecke der Straßen erneuert wurde, die Schule renoviert, ein Zentrum für Bürgersicherheit (Polizei, Feuerwache und Rettungssanitäter unter einem Dach) eingerichtet oder kulturelle Anlaufstellen geschaffen wurden. Daneben gibt es aber auch Gemeinden, die sich noch nicht sicher sind, wo sie sich anschließen sollen oder ob sie lieber Einzelkämpfer bleiben.
In den meisten Siedlungen im Rajon Slowjansk lebt man von der Landwirtschaft. Getreide und Saaten werden hier hergestellt. Als Anhaltspunkt: In diesem Jahr wurde auf insgesamt 574300 Hektar Land von landwirtschaftlichen Betrieben unterschiedlicher Größe und Art Getreide angebaut. Noch immer bauen viele auf dem Dorf auch für den Eigenbedarf an.
Der Fluss Siwerskyj Donez und seine einzigartigen Landschaften schaffen in der Region auch ein Potenzial für eine touristische Entwicklung. Obwohl die Anzahl der Menschen, die ihren Urlaub hier planen, nach dem militärischen Konflikt zurückgegangen ist, arbeiten viele Gemeinden aktiv an ihrer Attraktivität für Feriengäste.
Zum Beispiel lädt das Dorf Prelesne in sein Museum für Volksarchitektur, Alltagsleben und Kinderkunst ein, das in einem Landgut des 19. Jahrhunderts untergebracht ist, einem der bedeutendsten Baudenkmäler der Oblast Donezk.
Swjatohirsk steht bei den Menschen im Donbas im Sommer hoch im Kurs. Berühmt ist es für seine Kalkberge, den Kiefernwald und die Strände am Ufer des Siwerskyj Donez. Hauptanziehungspunkt ist jedoch die Lawra von Swjatohirsk, das Höhlenkloster des Heiligen Entschlafens der Gottesgebärerin.
Nach den Ereignissen im Jahr 2014 kam es in der Region Donezk zu einem patriotischen Aufschwung. Viele neu gegründete Organisationen widmeten sich der Kultur und Geschichte der Ukraine. In den Städten wurden patriotische Aufmärsche veranstaltet, kulturelle Veranstaltungen organisiert, Feste gefeiert.
In Slowjansk etwa wird auf Initiative der Plattform ZMISTO am alljährlichen Unabhängigkeitstag der Ukraine der „Tag der Geburt des Landes” begangen, zu dem jede/er als MitorganisatorIn beitragen kann, indem er oder sie einen eigenen Veranstaltungsort bespielen oder Erfahrungen und Kenntnisse auf einem bestimmten Gebiet weitergeben kann.
Mithilfe internationaler Organisationen wurden in der Region Donezk eine Reihe von öffentlichen Orten und Plattformen ins Leben gerufen, an denen sich junge Menschen zum Erfahrungsaustausch treffen, Bildungsangebote wahrnehmen oder Informationen einholen können. In Slowjansk ist dies das „Treibhaus”, in Kramatorsk das „Freie Haus", in Druschkiwka gibt es den „Halwa Hub”, in Kostjantyniwka das „Freunde” und in Bachmut den „Workshop”.
2015 schloss sich der damals 23-jährige Jewhen Skrypnyk dem Initiativkomitee des Slowjansker Treibhauses an. Er nahm an vielen kulturellen Veranstaltungen teil und organisierte Jugendgruppen, beschloss dann aber, etwas eigenes auf die Beine stellen zu wollen. Der dynamische junge Mann gründete das Projekt Shum.Rave und begann mit der Organisation von Musikfestivals und Partys in den Städten der Region Donezk. Diese Raves überzeugten Yewhen davon, dass es unter den Jugendlichen eine Nachfrage gab für eine neue Art Nachtleben, hochwertige Musikveranstaltungen mit einem professionellen Management. Nicht einmal die Quarantänemaßnahmen der letzten Monate trockneten diesen Hunger aus. In Slowjansk fand im Mai eine Online-Party von Festival Plan B und Shum.Rave statt, später am Abend dann unter freiem Himmel eine Lightshow.
In Slowjansk gibt es aber auch ältere Menschen mit Unternehmergeist. Die Slowjanskerin Natalia Bondarenko hat eine Stiftung ins Leben gerufen, mit der sie Menschen ab 50 unterstützt in ihrer persönlichen Weiterentwicklung, Selbstverwirklichung und Lebensfreude. Die Mitglieder der Organisation sind überzeugt, dass das Leben mit 50 gerade erst beginnt. Frauen wie Männer eignen sich Computerkenntnisse oder eine finanzielle Allgemeinbildung an, lernen Englisch, Tanzen, Nordic Walking, Yoga oder veranstalten Fotosessions.
Nach dem Krieg änderte sich in Slowjansk alles
Der militärische Konflikt wirkte in Slowjansk wie ein Katalysator für viele Veränderungen, im Stadtbild wie im Leben der EinwohnerInnen. Natürlich glauben viele noch immer, die beste Lösung sei auszuwandern oder über die Regierung zu schimpfen, doch es gibt viele Menschen, die bereit sind, ihr Leben in die Hand zu nehmen und sich eine Zukunft aufzubauen.
Im Laufe der vergangenen sechs Jahre wurden beschädigte Gebäude wieder aufgebaut, Krankenhäuser und Schulen saniert, ein regionales Verwaltungszentrum gebaut und viele Organisationen gegründet, die in der Jugend- oder Flüchtlingsarbeit aktiv sind. Zudem wurden innovative Projekte und Programme für Unternehmer durchgeführt.
Die EinwohnerInnen begannen, sich für die Arbeit der lokalen Selbstverwaltung zu interessieren und mit deren Organen zusammenzuarbeiten. Den Kontakt zwischen BürgerInnen und Verwaltung zu verbessern, ist eine der Aufgaben der Kyjiwer Gespräche, die seit 2017 in Slowjansk aktiv sind. Dank ihres Engagements konnte sich Slowjansk ein „Teilhabebudget” geben und die Bürger der Stadt und ihre vielfältigen Communities zu eigenen Projekten ermutigen.
Über das Programm konnten etliche von BürgerInnen eingebrachte Initiativen verwirklicht werden, die zur Verbesserung der Lebensqualität im öffentlichen Raum beigetragen haben, darunter etwa Sportplätze, Naherholungsziele für Familien oder Kinder, Fotozonen. Im Viertel Slowkurort ist ein ganzer Kunsthof entstanden. Skulpturenkompositionen stehen dort für die Richtungen, die die Entwicklung der Stadt nehmen soll.
Ebenfalls der Arbeit der Kyjiwer Gespräche ist es zu verdanken, dass die Stadt Mittel der elektronischen Bürgerbeteiligung eingeführt und die Menschen in deren Nutzung geschult hat. Auch SmartCity-Dienstleistungen wurden in diesem Jahr zur Verfügung gestellt. Eine App zur Installation auf dem Smartphone bündelt zum Beispiel aktuelle Informationen aller kommunalen Energieversorger, listet die Kontaktdaten aller Behörden und Regierungsorganisationen und hilft dabei, mit ihnen Verbindung aufzunehmen.
Andere Gemeinden, darunter Torezk, Druschkiwka, Bachmut und Wuhledar haben sich dem SmartCity-Programm ebenfalls angeschlossen, Slowjansk aber ist in punkto Digitalisierung am weitesten vorangeschritten.
Die Stadt unterhält viele weitere Programme zur Förderung des bürgerschaftlichen Engagements und zur Unterstützung von Unternehmern oder Binnenflüchtlingen. Durch Förderprogramme gelang es einigen Geflüchteten, sich mit einem eigenen Unternehmen selbständig zu machen. Allerdings kehrten auch etliche wieder in die nicht mehr unter ukrainischer Kontrolle stehenden Gebiete zurück, denn nicht jede/r fand Wohnung und Arbeit.
Die Stadt sowie SpendengeberInnen realisieren weiterhin auch an Binnenflüchtlinge adressierte Projekte. Im Moment wird in Slowjansk etwa ein ehemaliges Wohnheim zu einem Wohnhaus für Geflüchtete umgestaltet.
Der Krieg hat die Lebensrealität der Menschen im Donbas für immer in „davor” und „danach” unterteilt. Das Leben der Menschen in Slowjansk hat sich durch die 84 Tage dauernde Besetzung, während derer man mit Tod und Zerstörung konfrontiert war, Schüsse und Einschläge hörte, tiefgreifend verändert.
Die Ereignisse haben viele Menschen dazu gebracht, ihre Einstellung, ihre nationale Identität, ihr Engagement für ihre Stadt zu überdenken. Unmittelbar nach dem Ende der Besatzung erlebte das Ehrenamt hier einen ungeheuren Aufschwung. Wer zuvor nicht über seinen Tellerrand hinausschaute, nahm plötzlich einen sehr viel breiteren Standpunkt ein. Einige unterstützten die Armee, andere boten eine kostenfreie Englisch-Lerngruppe an, noch andere halfen älteren Menschen oder setzten sich für Jugendliche ein.
Heute steht Slowjansk in der ganzen Ukraine für Frieden und eine europäische Zukunft des Landes. Die Bürger der Ostukraine hoffen auf breiter Basis, dass schon bald die Nationalflagge wieder über allen Städten im Donbas wehen wird.
Aus dem Ukrainischen von Beatrix Kersten.