Zehn Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus der Ukraine unternahmen im September 2019 auf Einladung der Kiewer Gespräche eine Bildungsreise nach Deutschland. Zur Gruppe gehörten AktivistInnen, VerwaltungsmitarbeiterInnen und Stadträte aus acht ukrainischen Regionen. In den Städten Görlitz und Dresden machten wir uns mit kommunalpolitischen Strukturen und aktuellen Debatten vertraut. Ein Reisebericht aus Sachsen von Marta Gurina, Mitarbeiterin der Kiewer Gespräche (Büro Kyiv).
Görlitz, die “Europa-Stadt” an der Neiße ist mit rund 50.000 Einwohnern die östlichste Stadt und zugleich eine der ärmsten Kommunen Deutschlands. Bis ins 19. Jahrhundert hinein gehörte Görlitz zu den reichsten deutschen Städten, denn der Ort lag an der Via Regia, einer wichtigen Handelsstraße. Im Zweiten Weltkrieg blieb Görlitz von Bombenangriffen weitgehend verschont, deswegen lockt die Stadt heute mit ihrer authentischen Aura und ihrer gut erhaltenen historischen Bausubstanz TouristInnen aus Deutschland und ganz Europa an.
Görlitz liegt an der Grenze zu Polen, doch viele BewohnerInnen sympathisieren mit einer politischen Partei, die „geschlossene Grenzen“ propagiert – was die Menschen allerdings nicht davon abhält, regelmäßige Einkaufsfahrten nach Polen zu unternehmen. In Görlitz gibt es aber auch seit ein paar Jahren das Café HotSpot – einen Begegnungsort für MigrantInnen und Deutsche, die hier frei über die Schwierigkeiten der Emigration sprechen können und Konzerte lokaler Rockgruppen besuchen. Dies erleichtert den Neu-Görlitzern die Integration. Die Studentin Iryna Yaniv berichtete auf einer Stadtführung von den sozialen Spannungen.
Das Projekt „Stadt auf Probe“
Das Kennenlernen spannender Initiativen begann mit dem Projekt „Stadt auf Probe“ des Interdisziplinären Zentrums für ökologischen und revitalisierenden Stadtumbau (IZS). Ziel des Projekts ist es, junge Menschen und Familien zu einem Umzug nach Görlitz zu bewegen, denn in den vergangenen Jahren ist die Einwohnerzahl von siebzig- auf fünfzigtausend gesunken, das Durchschnittsalter liegt bei 46 Jahren. Im Projekt "Stadt auf Probe – Wohnen und Arbeiten in Görlitz" können Interessierte vier Wochen lang kostenlos in Görlitz wohnen. Danach entscheiden sie sich, ob sie tatsächlich umziehen wollen. In Interviews berichten sie über ihre als “Probe-Görlitzer” gemachten Erfahrungen. So erfährt auch die Stadtverwaltung, die Partner der Forschungseinrichtung ist, welche Bedürfnisse die potenziellen BewohnerInnen haben und wie die Lokalpolitik Görlitz für den Zuzug attraktiver machen kann. Im Gespräch mit Diplom-Geografin Constanze Zöllter erfuhren wir außerdem einige Fakten zur sozioökonomischen Struktur der Grenzregion.
Jugendzentrum in der alten Fabrik - Rabryka
Die zweite lokale Initiative in Görlitz ist das Jugendkulturzentrum Rabryka oder „Rote Fabrik“. Der Name setzt sich aus dem polnischen Wort fabryka und dem deutschen Wort Rot zusammen und ist eine Anspielung auf die roten Backsteinbauten auf dem Gelände der Energiefabrik Görlitz und im Nachbar-Areal. Für die Schaffung des gemeinschaftlichen soziokulturellen Raums haben die Jugendlichen in Eigenregie vieles auf die Beine gestellt, wovon uns Mitarbeiter Dar Ronge bei einem Rundgang berichtete. Zu den Aktivitäten gehören:
• Einrichtung eines Coworking-Space mit Küche, Bar, einer Holzwerkstatt und einem Tonstudio;
• Veranstaltung wöchentlicher offener Treffen mit Abendessen, Brettspielen und der Umsetzung gemeinsamer Projekte;
• regelmäßige Durchführung von Workshops (z.B. ein Street-Art-Kurs mit dem berühmten Künstler Sokar Uno);
• Bau einer Snowboard-Rampe für Snowboardfahren … im Sommer!
Offenes Cafe im sozialen Brennpunkt
Am dritten Tag unserer Studienreise führte uns die junge Sozialarbeiterin Franziska Böhm durch den CaTee-Drale e.V., zu dem ein Sozialcafé, eine offene Fahrradwerkstatt und ein Jugendzentrum in unmittelbarer Nähe eines Görlitzer Brennpunktviertels gehören. Jede BewohnerIn des Stadtteils Innenstadt-West und Umgebung kann hierher kommen, wenn sie oder er Hilfe benötigt, sich unterhalten oder einfach nur einen Kaffee trinken möchte. Frau Böhm berichtete auch von den politischen Fragen, mit denen sich die offene Sozialarbeit in diesem Umfeld beschäftigen muss.
Treffen mit dem Oberbürgermeister und der Beteiligungs-Koordinatorin
Unsere Teilnehmerinnen und Teilnehmer fieberten dem Treffen mit dem im Frühjahr 2019 gewählten Bürgermeister Octavian Ursu (CDU) entgegen, mit dem wir im pittoresken alten Rathaussaal über die vorrangigen Aufgaben des Stadtrats sprachen. Wir erfuhren vom Aufbau einer Online-Plattform für die Registrierung und Unterstützung kleiner Unternehmen und Start-Ups, von den verstärkten Bemühungen, Beteiligungsinstrumente und Projektförderung auf kommunaler Ebene für die Mitmenschen transparent und nachvollziehbar zu gestalten, und von der Fürsprache einer größeren Anzahl von Arbeitgebern, um die wirtschaftliche Situation in der Stadt zu verbessern. Anschließend erwartete uns eine Präsentation von Silke Bähnisch, Koordinatorin Bürgerbeteiligung der Stadt, in der sie über das sachsenweit einzigartige Modell der stadtteilbezogenen Bürgerbeteiligung mit Verteilung finanzieller Mittel des städtischen Haushalts unter Berücksichtigung der Einwohnerzahl der acht Stadtteile sprach. EinwohnerInnen können soziale und kulturelle Projekte zur Begutachtung einreichen, mit denen sie das Leben in ihrem Stadtteil verbessern wollen. Die ausgewählten Projekte erhalten für ein Jahr eine Finanzierung. Zu den besonders erfolgreich umgesetzten Projekten gehören Lastenfahrräder, die man gebührenfrei ausleihen kann, die Ausstattung einzelner Orte in der Stadt mit Tischtennisplatten und das Aufstellen von Insektenhotels und Bienenstöcken.
Diskussionsabend "Vom aktiven Bürger zum Stadtrat"
Bei einem deutsch-ukrainischen Diskussionsabend tauschten wir uns mit Vertreterinnen und Vertretern des Kommunalpolitischen Netzwerks Motor Görlitz e.V. aus über die aktuelle politische Landschaft in der Ukraine und die durch die “Alternative für Deutschland” (AfD) stark polarisierten Oberbürgermeister- und Kommunalwahlen in Görlitz im Frühjahr 2019. Wir sprachen darüber, wie die Görlitzer Erfahrungen eines kommunalen Wahlkampfes in Zeiten starker gesamtgesellschaftlicher Polarisierung im Hinblick auf die 2020 geplanten Kommunalwahlen in der Ukraine hilfreich sein können. Unsere GesprächspartnerInnen Mike Altmann, Andreas Kolley und Juliane Brandt gaben wertvollen Einblicke.
Ihr Fazit lautete „Wer sich einbringt und für die Stadt aktiv wird, entwickelt die beste Immunität gegen Populismus.“
Dresden – Kulturhauptstadt Europas?
Die sächsische Landeshauptstadt Dresden, die Dostojewski „Stadt in der Tabakdose“ nannte, weil so viele Sehenswürdigkeiten hier so nah beieinander liegen, war zweite Station der Reise. In diesem Jahr möchte Dresden 2025 die Bewerbung um den Titel Kulturhauptstadt 2025 einreichen. Bei der Auswahl zählen – entgegen der landläufigen Meinung – nicht nur ansprechende Architektur und eine vielfältige Museenlandschaft. Wichtig ist auch, eine Antwort auf die zentrale Frage zu finden: „Wer sind wir, was wollen wir in unserer Stadt verändern?“ Zu den Auswahlkriterien gehören unter anderem: eine nachhaltige Entwicklungsperspektive für das Projekt, seine gesamteuropäische Bedeutung, die Einbindung der Zivilgesellschaft und die politische Unterstützung durch die Stadt. Die Mitarbeiterin Oksana Katvalyuk berichtete uns im Kulturrathaus darüber, wie der Bewerbungsprozess als Plattform zur Entwicklung einer neuen, öffentlichen Debattenkultur genutzt wurde.
Im Fraktionsbüro
Bei unserem Besuch im Fraktionsbüro der CDU Dresden sprachen wir mit Ingo Flemming (MdL), Sprecher des Ausschusses für Petitionen und Bürgerbeteiligung im Sächsischen Landtag, und mit Büroleiter Andreas Rönsch. Wir diskutierten die neuen Mehrheitsverhältnisse im Dresdner Stadtrat, sein Reglement und die Besonderheiten in der Zusammenarbeit zwischen den Fraktionen. Wie sich herausstellte, finden sich hier viele Parallelen zum ukrainischen politischen Alltag auf städtischer Ebene.
Die Dresdner Neustadt und ihre Akteure
Am Ende des Tages lernten wir das Veranstaltungszentrum Scheune Dresden kennen. Dabei handelt es sich um ein Gebäude, das bereits 72 Jahre existiert und sich von einem sozialistischen Jugendklub zu einem freien Kulturzentrum gewandelt hat. Die MitarbeiterInnen und Aktiven rund um unseren Gesprächspartner Olaf Hornuf versuchen, die Atmosphäre des vielschichtigen Stadtteils Neustadt positiv zu beeinflussen, indem sie die verschiedensten Veranstaltungen durchführen und dafür auch den öffentlichen Raum nutzen, welcher in letzter Zeit nicht selten zum Schauplatz von Konflikten oder Drogendelikten wird. Veranstaltungen wie zum Beispiel eine “Silent Disco” mit Kopfhörern unter freiem Himmel, ein offener Tangokurs, Poetry-Slam-Abende und Konzerte mit renommierten deutschen Bands gehören zum Programm.
Die Scheune und zahlreiche andere sozio-kulturelle Vereine haben in der Dresdener Neustadt ihr Zuhause gefunden. Sie sind Teil eines einzigartigen Phänomens in der jüngeren Geschichte der Stadt Dresden. Als sich die Wende ankündigte, aber die politische Zukunft der DDR noch offen schien, besetzten rebellische Studierende und KünstlerInnen die leerstehenden Gebäude in der Neustadt, die man nach Modernisierungsplänen Ende der 1980er Jahre abreißen und durch Neubauten ersetzen wollte. Die BesetzerInnen erklärten das Viertel kurzerhand zur “Bunte Republik Neustadt” (BRN), wählten einen „Monarchen“ und führten eine eigene Währung ein. Diese anarchistische “Republik” war phantasievoller Protest von KünstlerInnen und Angehörigen jugendlicher Subkulturen, die zwischen dem Auflösen der staatlich verordneten sozialistischen Werte und dem aufkommenden Kapitalismus das Schicksal der ostdeutschen Gesellschaft kritisch hinterfragten. Heute erinnert ein Museum im Stadtteilhaus an diese wilde Zeit, von der uns Ulla Wacker, damals selbst Jugendliche und heute Mitglied der Bezirksverordnetenversammlung für die Grünen, uns erzählte. Der freie und kreative Geist der sächsischen Hauptstadt war für die Teilnehmenden in dieser Umgebung sehr eindrucksvoll spürbar.
"Internationale Gärten" im Stadtteil
An unserem letzten Tag in Dresden lernten wir Christian Bärisch kennen, der dem Internationale Gärten Dresden e.V. angehört. Lange Zeit gab es im Stadtteil Dresden-Johannstadt viele Brachflächen und bereits in den 1980er Jahren siedelten sich hier Migrantinnen und Migranten an. Der interkulturelle Gemeinschaftsgarten greift diese Umstände auf. In dem Stadtteil wohnen heute Menschen aus Syrien, Vietnam, China, der Türkei und anderen Ländern. Die Grundregel des Gartens lautet: harmonisches Miteinander aller Bewohner. Die Gartenfläche besteht aus 120 Beeten, auf denen die GärtnerInnnen unterschiedlicher Herkunft alles Mögliche anpflanzen: von Rosensträuchern bis zu beeindruckenden chinesischen Melonen. Ein Drittel der Nutzer sind Einheimische, ein Drittel Migranten und ein Drittel Geflüchtete, die in den letzten Jahren nach Dresden gekommen sind. Das gemeinsame Gärtnern führt zu einem Erfahrungsaustausch zwischen verschiedenen kulturellen und sozialen Gruppen. Christian Bärisch sagt: „Unsere Politik ist das Gärtnern. Wir führen in unseren Gärten politische Diskussionen durch, singen gemeinsam, geben Kochkurse und veranstalten Grillabende. Das ist ein einzigartiger Raum, auf dem nicht nur Blumen und Gemüse gedeihen, sondern auch Toleranz und gegenseitiges Verständnis.“
Vom sozialistischen Kulturpalast zum multifunktionalen Zentrum
Der Tag endet mit einer Führung durch den umgestalteten Kulturpalast und die zentrale Stadtbibliothek. Das Gebäude ist mit Fresken im Stil der sozialistischen Moderne dekoriert. Durch die weiten Panoramafenster der Bibliothek blickt man auf den Altmarkt, in der Mitte des Gebäudes befindet sich ein neuer Konzertsaal, der nach neuesten akustischen Maßstäben gestaltet ist. Mit der Umnutzung des alten Kulturpalast sollte bewusst die Idee einer "Kultur für alle" weitergeführt werden, so ist beispielsweise die Stadtbibliothek frei zugänglich.
Auf der Studienreise konnten die Teilnehmenden verschiedene städtische Einrichtungen und freie Vereine kennenlernen. In zahlreichen Gesprächen mit LokalpolitikerInnen mehrerer politischer Parteien, MitarbeiterInnen von Stadtverwaltungen und zivilgesellschaftlich Aktiven entstand ein differenziertes Bild der aktuellen, zum Teil besorgniserregenden Problemlagen in sächsischen Städten. Vor diesem Hintergrund war das Festhalten an demokratisch legitimierten Prozessen und einer offenen Debattenkultur sowie der persönlichen Einsatz vieler GesprächspartnerInnen für die Teilnehmenden besonders eindrücklich.