Die Mitbegründerin der Kyjiwer Gespräche, Stefanie Schiffer, reiste Anfang Juni in die Ukraine, um sich mit unseren Partnern zu treffen und sich über die Lage in den Regionen zu informieren. Ihre Reise führte sie über Lwiw, Chmilnyk, Kyjiw, nach Tscherkassy. Lesen Sie hier von ihren Eindrücken.
Stefanie Schiffer mit dem Team von Horyzont Smin, Tscherkassy
Der russische Krieg gegen die Ukraine hat zu einem massiven Einbruch der Wirtschaft in der Ukraine geführt und betrifft alle Regionen des Landes. Gravierend sind die Auswirkungen für die Kommunen, sie tragen die Hauptlast der sozialen Kriegsfolgenbewältigung.
Ein Ziel der Reise war, mich über die Auswirkungen des Krieges auf die Kleinstädte zu informieren, in denen die Partnerorganisationen der Kyjiwer Gespräche aktiv sind und mehr über die Herausforderungen zu erfahren, mit denen die Zivilgesellschaft konfrontiert ist.
Wirtschaftliche Lage und Kriegsrecht schwächen die Kommunen:
Vor dem Beginn des vollumfänglichen russischen Kriegs gegen die Ukraine lebten 2% der Bevölkerung unter der Armutsgrenze, heute sind es 25%. Die Kommunen im ganzen Land sind von einem Wirtschaftseinbruch um etwa 30% stark getroffen.
Der Verlust von Arbeitsplätzen führt zu geringeren Steuereinnahmen. Eine Ausnahme bilden die Kommunen, in denen militärische Infrastruktur wie Kasernen oder Sanatorien untergebracht sind. Die Aufnahme und Versorgung von Binnengeflüchteten belastet die Kommunen zusätzlich. Eine Integration in den örtlichen Arbeitsmarkt ist auf Gunde der wirtschaftlichen Lage kaum möglich. Hoffnung setzen die Geflüchteten selbst auf die Gründung von Kleinunternehmen.
Die Verteilung der Geflüchteten in den Kommunen ist äusserst unterschiedlich. Kleinstädte mit guter Zuganbindung und in der Nähe größerer Städte sind um bis zu 30% der ursprünglichen Einwohnerzahl angewachsen. In abgelegeneren Regionen ist die Zahl der Binnengeflüchteten geringer.
Auch in Kriegszeiten sind Partizipation und zivilgesellschaftliche Kontrolle wichtig
Unsere lokalen Partner berichten, dass die Interessen der sozial Benachteiligten und der Binnenvertriebenen in vielen kleineren Gemeinden nicht an erster Stelle stehen. Besonders in Gemeinden, in denen die Bürgermeister*innen über eine politische Hausmacht in den Gemeinderäten verfügen, ist die öffentliche Kontrolle über die Kommunalpolitik stark eingeschränkt.
Das Kriegsrecht verringert zusätzlich die öffentliche Aufsicht und schränkt die Arbeit der zivilgesellschaftlichen Organisationen (CSOs) ein. Transparenzanforderungen an die Verwaltung sind durch das Kriegsrecht abgesenkt, ebenso die öffentliche Informationspflicht. Ratssitzungen werden nicht mehr online übertragen. Viele Aktivisten sind an der Front.
Durch das Kriegsrecht und die eingeschränkte Budgethoheit sind in vielen Kommunen des Landes die Bürgerbudgets (= kommunale Kleinprojektförderungen) ausgesetzt. Besonders angesichts der bereits einsetzenden internationalen Hilfsprogramme sollte eine funktionierende gesellschaftliche Partizipation und Kontrolle über deren Umsetzung eine hohe Priorität haben.
Was die lokale Zivilgesellschaft und internationale Institutionen tun können
Trotz dieser schwierigen Rahmenbedingungen können zivilgesellschaftliche Organisationen auch in den Kommunen eine wichtige Funktion beim lokalen Wiederaufbau übernehmen. Doch dafür müssen bestehende Strukturen weiterentwickelt werden und die Organisationen selbst müssen sich informieren, fortbilden und systematisch vernetzen können.
Die durch das Kriegsrecht ausgesetzten Partizipationsinstrumente wie Anhörungen, oder Bürgerbudgets sollten in den Kommunen wieder eingesetzt werden. Oft liegt es im Ermessensspielraum der Gemeinden selbst, diese Entscheidungen zu treffen. Der gesellschaftlichen Beteiligung bei der Erarbeitung von kommunalen Entwicklungsplänen kommt gerade beim Wiederaufbau und der Integration von Binnengeflüchteten eine besondere Bedeutung zu.
Die Unterstützung unabhängiger lokaler (auch sozialer) Medien ist für die Erhöhung von Transparenz und Rechenschaft beim Wiederaufbau unumgänglich. Fortbildungen werden auch benötigt, damit lokale zivilgesellschaftliche Akteure befähigt werden, die digitalen Monitoringsysteme, die bereits auf nationaler Ebene entwickelt wurden, auch auf lokaler Ebene anzuwenden.
Gesellschaftliche Partizipation und Transparenz auf lokaler Ebene brauchen externe Unterstützung und Vernetzung zu anderen Akteuren im Land und in der Region. Einzelkämpfer können nichts ausrichten.
„[Wir wollen zurück]. So schnell wie möglich, sofort nach dem Sieg, der sehr schnell kommen wird.“
Die Lage in Chmilnyk, einer Kleinstadt mit 21.000 Einwohnern in der Region Winnyzja, verdeutlicht die Situation vieler Kommunen. Da in den Sanatorien des Kurorts heute vor allem Militärangehörige behandelt werden, konnte die Stadt ihre Einkünfte von 320 Mio UAH im Jahr 2021 auf 410 Mio UAH (ca. 1,02 Mio EUR) im Jahr 2023 steigern.
Doch die bedeutsame lokale Tourismusbranche ist ein- und viele Arbeitsplätze weggebrochen. Besonders für IDPs ist die Integration in den Arbeitsmarkt praktisch unmöglich.
Team von PRAWO vor dem alten Palast des Grafen Ksido in Chmilnyk
Die meisten der Geflüchteten, die vor allem aus Cherson und Charkiw stammen, möchten schnellstmöglich in ihre Heimatstädte zurückkehren.
Zivilgesellschaft kann zur sozialen und wirtschaftlichen Integration beitragen
700 von ursprünglich 7000 IDPs leben in Chmilnyk heute in Sammelunterkünften. Eine Gelegenheit zu Begegnung und Austausch bietet der Hub „Murashnik“, den die Partnerorganisation der Kyjiwer Gespräche „PRAWO“ in der Stadt eingerichtet hat.
Hub Murashnik („Ameisenhaufen“) in Chmilnyk
Die Wohnsituation von IDPs ist prekär. Hubs bieten für die Geflüchteten eine Möglichkeit, der Vereinzelung zu entgehen, Kultur und psychologische Hilfe zu erfahren, Beratung und humanitäre Hilfe zu erhalten oder selbst aktiv bei der Hilfe für andere zu werden.
Geflüchtete Unternehmer*innen und Akademiker*innen berichteten im Hub Murashnik von ihrer Bereitschaft, Kleinunternehmen zu gründen, die sie zunächst in Chmilnyk aufbauen würden, nach der Rückkehr in ihren Heimatstädten weiterführen möchten. Dies können Betriebe in der Nahrungsmittelproduktion oder ökologischen Recyclingprogrammen etwa von Baumaterialien sein, die möglichst geringe technische Investitionen erfordern.
Betriebsgründungen können durch Mentoring, Schnellausbildung, und Hilfe bei der Unternehmensgründung unterstützt werden. Als Vorbild können Mentorenprogramme dienen, die in größeren Städten bereits von 2014 geflüchteten Unternehmer*innen umgesetzt werden - diese Modelle könnten auch in Kleinstädten angeboten werden.
Kolleg*innen unserer Partnerorganisation Halabuda in ihrem Hub "Berehynja", Kyjiw
Die Projektpartner der Kyjiwer Gespräche aus Mariupol, das Zentrum Halabuda, haben auch nach der Flucht aus der zerstörten Stadt einen engen Zusammenhalt Die Halabuda Community ist heute in Lwiw, Saporischschja, Kyjiw und Tscherkassy aktiv.
In Kyjiw besteht seit Anfang Juni ein Begegnungsort für die IDPs aus Mariupol im neu eröffneten Hub „Berehynja“ im Zentrum der Stadt. Computerarbeitsplätze, Beratungen und Fortbildungen werden hier für die Geflüchteten angeboten.
Der jahrelange Ausbau des Netzwerks der Kyjiwer Gespräche zeigt seine Wirkung
Die Stärkung lokaler zivilgesellschaftlicher Strukturen, zu der die Kyjiwer Gespräche seit 2014 beitragen, haben sich gerade in der historischen Krise des Jahres 2022 als wichtige Investition erwiesen. Die Stärkung und Vernetzung zivilgesellschaftlicher Akteure in den Klein- und Mittelstädten des Landes bleibt eine Aufgabe, die besonders für den anlaufenden Wiederaufbau eine hohe Priorität haben soll.
Zivilgesellschaftliche Partizipation und Kontrolle erhöhen die Effizienz der Hilfsprogramme, tragen zu mehr Ownership, Transparenz und zur nachhaltigen Entwicklung der Kommunen bei. Die Bereitschaft unserer lokalen Partner, sich gemeinsam mit den Binnengeflüchteten am Wiederaufbau zu engagieren ist beeindruckend.
Der EU-Beitritt muss bei allen Schritten des Wiederaufbaus mitgedacht werden, die technischen und administrativen Planungen entsprechend ausgerichtet werden. Die Aufgabe internationaler Akteure wird es sein, gemeinsam mit Partnern in den Kommunen die entsprechenden Rahmenbedigungen zu schaffen und dafür zu sorgen, dass das Wissen und das Potential lokaler Akteure beim Wiederaufbau von Anfang an miteinbezogen wird.
Rückreise nach Berlin über Lwiw