Am 14. Dezember 2023 traf der Europäische Rat die historische Entscheidung, Beitrittsgespräche mit der Ukraine und Moldawien aufzunehmen. Eine positive Entscheidung wurde von vielen erwartet, nachdem die Europäische Kommission bereits im November die Aufnahme von Verhandlungen empfohlen hatte. Doch der ungarische Premierminister Viktor Orban hielt die EU-Mitgliedsländer und die Kandidatenländer bis zur letzten Minute in Atem. Letztlich hat die EU ihre Fähigkeit zur Krisenbekämpfung unter Beweis gestellt. Gleichwohl haben die Wochen vor dem Gipfel erneut die Schwachstellen der EU und ihren Reformbedarf offenbart.
Ein Kommentar von Marianna Fakhurdinova, Associate Fellow am New Europe Center in Kyjiw und Fulbright Visiting Researcher an der University of Southern California
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Nach dem EU-Kandidatenstatus war die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen der zweite große Schritt in den Beziehungen zwischen der Ukraine und der EU seit Beginn der vollumfänglichen russischen Invasion. Obwohl sie als große historische Entscheidung begrüßt wurde, kam die Entscheidung für die meisten Diplomaten und Experten überraschend. Die offenen Drohungen Ungarns, die Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine zu blockieren, wurden ernst genommen, da es in der Geschichte der EU bereits Präzedenzfälle gab, in denen das Vetorecht im Erweiterungsprozess missbraucht wurde.
Missbrauch des Vetorechts und Kreative Diplomatie
Griechenland und später Bulgarien blockierten die Beitrittsgespräche mit Nordmazedonien (und Albanien gleichwohl) mehr als anderthalb Jahrzehnte lang. Während die beiden Länder jedoch das Ziel verfolgten, der EU Zugeständnisse in historischen und politischen Streitigkeiten mit Nordmazedonien abzuringen, lag Ungarns Verzögerung der Aufnahme von Verhandlungen mit Kyjiw eher in seinen eigenen Forderungen an die EU begründet als in der Beitrittsfähigkeit der Ukraine..
Offiziell begründete Viktor Orban seine Haltung unter anderem mit der Sorge um die Rechte der ungarischen Minderheit. Das gleiche Argument nutzte Orban bereits 2017-2023, um die Arbeit der NATO-Ukraine-Kommission auf höchster Ebene zu blockieren. Es wurde jedoch deutlich, dass Ungarn das Thema nur instrumentalisierte. Weder die Änderung des ukrainischen Gesetzes über nationale Minderheiten noch kreativere Schritte wie der offene Brief der ungarischen Minderheit in der Ukraine, brachten Orban dazu, seinen Standpunkt zu ändern.
Während eines weiteren historischen Gipfeltreffens im Juni 2022 trug die kreative Diplomatie der Ukraine weitere Früchte: Die öffentliche Unterstützung des EU-Kandidatenstatus für die Ukraine durch die Staats- und Regierungschefs der westlichen Balkanstaaten, kam auf diplomatische Initiative Kyjiws zu Stande und dürfte letztlich zu der positiven Entscheidung des EU-Gipfels beigetragen haben. Sie entkräftete das stärkste Argument der Skeptiker, dass der Kandidatenstatus für die Ukraine unfair gegenüber den westlichen Balkanstaaten sei.
Während die Beschlüsse des ersten Gipfeltages vor allem die weiteren Schritte der Ukraine auf dem Weg zur Mitgliedschaft betrafen, ging es weniger um die Ukraine selbst, sondern um die Einheit der EU und die finanziellen Interessen Ungarns. Wie schon bei der Abstimmung über die EU-Sanktionspakete gegen Russland feilschte Ungarn mit der EU, diesmal um die Freigabe zuvor eingefrorener Gelder. Um Ungarns Loyalität zu gewinnen, unternahm die EU eine Reihe von Schritten, die von persönlichen Treffen von Charles Michel, Emmanuel Macron und Olaf Scholz mit Viktor Orban bis hin zur Freigabe von 10 Mrd. EUR durch die EU für Ungarn reichten (was allerdings nicht mit dem potenziellen Veto Ungarns in Verbindung gebracht wird).
Es ist noch nicht bekannt, ob es diese Bemühungen waren oder der Verzicht der zuvor als potenzielle Blockierer gehandelten Slowakei und Österreichs von einem Veto, die zu der positiven Entscheidung des Gipfels führten. Auf jeden Fall hat sich gezeigt, dass die EU in der Lage ist, Krisen zu lösen und sie zu kreativen Lösungen zur Überwindung der Erpressung durch einen einzelnen Mitgliedsstaat fähig ist, wenn die Mehrheit der Mitgliedstaaten einen politischen Willen hat.
Olaf Scholz zufolge wurde die Lösung zur Umgehung des ungarischen Vetos diesmal im Rahmen der EU gefunden: Die Abstimmung fand in Abwesenheit Orbans statt (gleichbedeutend mit konstruktiver Enthaltung), dem es auf diese Weise gelang, sich einen finanziellen Vorteil zu verschaffen, die EU-Entscheidung nicht zu blockieren und zeitgleich das Image des "Schurken" zu wahren. Eine ähnlich kreative Entscheidung wurde auch im Juli 2023 getroffen, als es der NATO gelang, die Arbeit der NATO-Ukraine-Kommission auf höchster Ebene unter Umgehung des ungarischen Vetos freizugeben.
Die EU braucht interne Reformen
Gleichzeitig wurden auf diesem EU-Gipfel erneut die Schwachstellen der EU und die Notwendigkeit interner Reformen deutlich. Ungarn schaffte es immer noch, die Bereitstellung eines Hilfspakets von 50 Mrd. EUR für die Ukraine zu blockieren, und verkündete, weitere Schritte der Ukraine in Richtung EU zu verhindern. Die Diskussionen über die EU-Reform begannen, nachdem der Ukraine und der Republik Moldau der EU-Kandidatenstatus zuerkannt worden war und die EU ihre "psychologische Blockade" für eine weitere Erweiterung überwunden hatte: Wie kann eine EU-35 funktionieren, wenn es bereits der EU-27 schwerfällt, Einstimmigkeit herzustellen. Obwohl seit fast zwei Jahren auf der Tagesordnung der EU, stecken die internen Reformdiskussionen noch in den Kinderschuhen. Verschiedene Gruppen von Ländern haben unterschiedliche Vorstellungen darüber, wie die Reform durchgeführt werden sollte. Vorschläge reichen vom Übergang von der Einstimmigkeit zum qualitativen Mehrheitsentscheid (QMV) bis hin zur Änderung der Erweiterungsmethodik.
Die EU-interne Reform ist also ein kompliziertes Thema, das bei den Mitgliedstaaten eine Reihe von Bedenken hervorruft: die möglicherweise erforderliche langwierige Änderung der EU-Verträge, die mit der Reform einhergehende Änderung der Kräfteverhältnisse in der EU, Haushaltsfragen usw. Daher sind die EU-Mitglieder noch weit davon entfernt, einen Konsens zu erzielen, und arbeiten lediglich an den Optionen. Dennoch hat der EU-Gipfel erneut bestätigt, dass eine solide EU-Reformstrategie notwendig ist. Darüber hinaus ist es wichtig, diese vor dem Sommer 2024 zu erreichen, wenn sich das neue Europäische Parlament konstituiert, die Europäische Kommission erhebliche Veränderungen erfährt und Ungarn den Ratsvorsitz in der EU übernimmt.
Die nächsten Schritte für die Ukraine sind klar
Auch wenn die EU-interne Reform noch Fragen offen lässt, sind zumindest die weiteren Schritte zur EU-Integration der Ukraine ziemlich klar. Nach der politischen Entscheidung, Beitrittsverhandlungen aufzunehmen, beginnt der technische Teil des Prozesses. Der erste Schritt ist die Annahme des Verhandlungsrahmens mit der Ukraine durch die EU-Mitglieder, in dem die Regeln und Grundsätze für die Verhandlungen festgelegt werden. Es wird erwartet, dass er bereits im März 2024 auf dem nächsten EU-Gipfel angenommen wird.
Hauptvoraussetzung für diese Entscheidung ist jedoch die Verpflichtung der Ukraine, vier weitere Empfehlungen der Kommission vom November 2023 umzusetzen. Die Ukraine hat diese Empfehlungen bereits fast erfüllt: Sie hat das Gesetz über nationale Minderheiten geändert, Gesetze zur Aufstockung des Personals des Nationalen Antikorruptionsbüros (NABU) und der Befugnisse der Nationalen Agentur zur Korruptionsbekämpfung (NACP) verabschiedet und den Gesetzentwurf über fairen Lobbyismus im Parlament registriert.
Ein weiterer Teil der Vorbereitungen auf den Beginn des technischen Teils der Verhandlungen ist das Screening der ukrainischen Gesetzgebung, um zu bewerten, inwieweit sie mit dem EU-Recht übereinstimmt. Die Ukraine und die Europäische Kommission werden bereits in der nächsten Woche mit der Arbeit an diesem Schritt beginnen. Die positive Nachricht in diesem Zusammenhang ist, dass die Ukraine - zum ersten Mal in der Geschichte der EU - bereits ein Selbst-Screening von rund 28.000 Rechtsdokumenten durchgeführt hat, was die Arbeit der Kommission erleichtern könnte.
Die politische Entscheidung der EU, die Beitrittsgespräche zu eröffnen, ist ein großer Sieg für die Ukraine, da damit nicht nur der point of no return in der EU-Integration der Ukraine erreicht wurde, sondern auch die Fortschritte der Ukraine bei der Umsetzung ihrer Reformanstrengungen anerkannt und der langwierige Prozess der Angleichung der ukrainischen Rechtsvorschriften an den Acquis Communautaire der EU eingeleitet wurde.
Die Umsetzung von sieben Reformblöcken, die nach Erlangung des EU-Kandidatenstatus von der EU-Kommission empfohlen wurde, hat fast anderthalb Jahre gedauert. Die Überarbeitung und Verabschiedung von Tausenden von Gesetzen dürfte entsprechend ein ziemlich langer Weg werden.
Ein wesentlicher Teil der EU-Gesetzgebung wird jedoch nicht nur von der Zentralregierung, sondern auch von den lokalen und regionalen Behörden implementiert werden müssen. Dies erfordert erhebliche Kapazitäten in den Kommunen. Die Fortsetzung der Dezentralisierungsreform ist dafür eine entscheidende Voraussetzung.
Während dieses Marathons sollte man jedoch nicht vergessen, dass die EU-Integration ein bilateraler Prozess ist, der nicht nur von den Fortschritten und Verdiensten des Kandidatenlandes abhängt, sondern auch von der Bereitschaft der EU zur Erweiterung. Der historische EU-Gipfel hat nicht nur diese Bereitschaft auf EU-Seite bestätigt, sondern auch die Stärken und Schwächen der EU aufgezeigt, die strategisch angegangen werden müssen. Sowohl die Ukraine als auch die EU beenden das Jahr 2024 mit einem Sieg im Bereich der Erweiterung, aber auch mit Aufgaben und Reformen, die in den kommenden Jahren durchgeführt werden müssen.
On December 14, 2023 European Council took the historic decision to open accession talks with Ukraine and Moldova. A decision was expected by many after European Commission recommended opening negotiations in November, yet Hungarian Prime Minister Viktor Orban kept EU members and candidate states in suspense until the last minute. In the end, the EU has demonstrated its ability to combat crises, however the pre-summit weeks have again exposed EU’s vulnerabilities and a need for reform.
Commentary by Marianna Fakhurdinova, Associate Fellow at the New Europe Center, Fulbright Visiting Researcher at the University of Southern California
After the EU candidate status, opening accession negotiations became the second big step in Ukraine-EU relations since Russia’s full-scale invasion in Ukraine. Though greeted as a big historic decision, it came as a pleasant surprise for most of the diplomats and experts. Hungary’s open threats to block accession negotiations with Ukraine were taken seriously, given that EU history already had precedents, when veto power was misused in the enlargement process.
In fact, Orban did not invent the wheel: Greece and later Bulgaria were blocking the accession talks with North Macedonia (and Albania in the same basket) for more than a decade and a half. However, while the countries above aimed to resolve in such way some historic and political disputes with North Macedonia in their favor, Hungary’s reluctance to support opening negotiations with Kyiv was aimed at gaining benefits from EU, rather than Ukraine.
Officially, Viktor Orban was justifying his position, inter alia, by concerns about the rights of Hungarian minority, an argument also used during 2017-2023 to block the work of NATO-Ukraine Commission on the highest level. Yet, it became clear that Hungary was just instrumentalizing the issue, when neither Ukraine’s amending the law on national minorities, nor more creative steps such as the open letter by Hungarian minority of Ukraine did not make Hungarian Prime Minister change his position.
During another historic summit in June 2022, Ukraine’s creative diplomacy brought more fruits: public statement by the leaders of the Western Balkan states supporting the EU candidate status for Ukraine, made upon the request of Kyiv, is believed to have contributed to the positive decision of the summit, as it debunked the popular argument by sceptics that candidate status for Ukraine would be unfair toward Western Balkans. This time, however, it was not Ukraine’s diplomacy, but rather EU-26, who had to settle the issue.
While decisions of the first day of summit concerned mostly Ukraine’s further steps towards membership, not so much Ukraine, as EU’s unity and Hungary’s financial interests were at stake. The same as during voting for the EU sanctions packages against Russia, Hungary was bargaining with the EU, this time for the release of previously frozen funds. Thus, aimed at gaining Hungary’s loyalty EU took an array of steps ranging from personal meeting of Charles Michel, Emmanuel Macron and Olaf Scholtz with Viktor Orban, to EU’s release of 10 bln EUR for Hungary (which is though stated not to be connected to Hungary’s potential veto).
It is still unknown whether these efforts or the fact that Slovakia and Austria, that previously assumed the possibility of blocking negotiations with Ukraine, refused from their intentions resulted into the positive decision of the summit. In any case, it demonstrated that EU is capable of solving crises and that creative solutions to overcome one state’s blackmail can be found once there is a political will among majority of member states.
Attributed to Olaf Scholtz, solution to bypass Hungarian veto was this time found within the EU framework: voting took place in the absence of Hungarian leader (equals to constructive abstention), who in such way managed to gain financial benefit, not to preclude EU from taking an important historic decision and save “villain’s” face. Alike creative decision was also found in July 2023, when the North Atlantic Alliance managed to unblock the work of NATO-Ukraine Commission on the highest level bypassing a Hungarian veto.
At the same time, this EU summit also again highlighted EU’s vulnerabilities and the need for internal reform. Hungary still managed to block the allocation of 50 bln EUR aid package to Ukraine, as well as promised to block further Ukraine’s steps towards EU. Discussions on the EU reform began since granting the EU candidate status to Ukraine and Moldova, when EU has overcome its psychological barrier towards further enlargement: namely, how EU-35 will be able to function, if it is already difficult to reach unanimity. Though almost two years on the EU agenda, internal reform discussions are still in the infancy. Different groups of countries have diverging visions on how the reform should be carried out, ranging from transition from the unanimity to qualitative majority voting (QMV), to modification of enlargement methodology.
Thus, EU internal reform is a complicated and painful issue, which raises a number of concerns among the member states: the possible need for lengthy change of EU treaties, the definite change in the balance of powers in the EU that reform will entangle, budgetary issues etc. Therefore, EU members are still far from reaching the consensus and are only drafting the options. Yet, the EU summit has again confirmed the need for a solid EU reform strategy. Moreover, reaching the latter is important before summer 2024, which will bring the new composition of the European Parliament, significant changes in European Commission, as well as Hungarian presidency in the EU.
Finally, while the EU internal reform still leaves a room for questions, at least further steps in Ukraine’s EU integration are rather clear. After the political decision to open accession negotiations, the technical part of the process begins. The first step is the adoption by the EU members of the negotiating framework with Ukraine, which will establish rules and principles of negotiations. It is expected to be adopted already in March 2024 on the next EU summit.
However, main precondition for this decision is Ukraine’s obligation to implement four additional Commission’s recommendations issued to Ukraine in November 2023. Ukraine has already almost fulfilled them: amended the law on national minorities, adopted the laws increasing the staff of the National Anti-Corruption Bureau (NABU) and the powers of National Agency on Corruption Prevention (NACP), registered in parliament the draft law on fair lobbying.
Another part of the preparation to the beginning of the technical part of the negotiations is screening of Ukrainian legislation to assess how aligned it is with the EU law. Ukraine and the European Commission will start working on this step already next week. The positive news in this context is that Ukraine – first in EU history – has already carried out the self-screening of around 28,000 legal documents, which might alleviate the work of the Commission.
EU political decision to open the accession talks became a big victory for Ukraine, since it not only anchored the no-return point in Ukraine’s EU integration, but also recognized Ukraine’s progress in implementing its homework in terms of reforms, as well as launched the lengthy process of unification of Ukraine’s legislation with EU acquis communautaire.
Since implementation of 7 blocks of reforms upon Commission’s recommendation after the EU candidate status has taken Ukraine almost a year and a half, revision and adoption of thousands of laws is expected to be a rather long way. Yet, substantial part of the EU legislation is then implemented not only by central government, but by local and regional authorities. This will require significant capacities in the local communities making the continuation of decentralization reform a crucial prerequisite.
Important thing to keep in mind during this marathon, however, is that the EU integration is a bilateral process, depending not only on progress and merits of the candidate state, but also on the EU’s willingness to enlarge. EU historic summit has not only confirmed such commitment on the EU side, but has also demonstrated both EU’s strengths and vulnerabilities, which need to be approached strategically. Both Ukraine and EU finish the year of 2024 with a victory in the enlargement domain, as well as with tasks and reforms to be carried out in the upcoming years.