Mariupol liegt im Osten der Ukraine und ist für seine Stahlwerke bekannt. Foto: Vira Protskykh
Die ukrainische Hafenstadt Mariupol liegt nur 20 Kilometer von der Front im Osten des Landes entfernt und gilt bereits seit acht Jahren als Vorposten der Ukraine. Wie reagiert die Zivilgesellschaft der Stadt auf die neue Bedrohung durch den Kreml? Eine Reportage.
Von Anna Murlykina, Mariupol
Im Jahr 2014 erlebte Mariupol eine Mobilisierung seiner Bevölkerung in bisher unbekanntem Ausmaß. Im Angesicht der realen Bedrohung einer russischen Besatzung und als russische Panzer nur noch 10 oder 15 km von der Stadtgrenze entfernt waren, gelang es den Menschen in Mariupol, sich zu organisieren und der Aggression entgegenzutreten. Zivilgesellschaftliche Organisationen und Vereinigungen wurden gegründet, kleine Freiwilligenverbände und private Freiwilligeninitiativen fanden zusammen. Als die Polizei sich faktisch zurückgezogen hatte, versuchten die Einwohner*innen Mariupols, die Lage in ihrer Stadt unter Kontrolle zu behalten. Sie errichteten eine Verteidigungslinie, hoben Gräben aus und unterstützten die Soldat*innen an den Checkpoints mit Verpflegung, Schuhen und Munition, die sie auf eigene Kosten beschafft hatten.
Je ruhiger und kontrollierter jedoch die Lage an der Front wurde, desto weniger gab es für die Freiwilligen zu tun. Etliche Organisationen, z. B. „Samooborona Mariupola” (Mariupoler Selbstverteidigung) und „Nowyj Mariupol” (Neues Mariupol), stellten ihre Tätigkeit ein, andere wie „Schidna Brama” (Tor nach Osten) konzentrierten sich auf rein zivile Projekte und Aktivitäten. Nun werden sie erneut von einer Krise eingeholt.
Im Herbst des vergangenen Jahres begann Russland, Truppen an der ukrainischen Grenze zusammenzuziehen. Medien in den USA und Europa berichteten über Pläne des Kreml für eine Großoffensive gegen die Ukraine.
„Zunächst konnte ich gar nicht glauben, dass so etwas eine reale Möglichkeit war. An die momentane Wirklichkeit haben wir uns alle schon gewöhnt. Wir sind auf hybride Bedrohungen gefasst, auf Provokationen und lokale Feuergefechte. Es schien schwer vorstellbar, dass Putin zu einem offenen Angriff auf breiter Front entschlossen sein könnte. Auch die Jungs an der Kontaktlinie meinten, bei ihnen sei noch alles ruhig. Sorgen machten wir uns erst, als Dutzende Journalist*innen aus der ganzen Welt in Mariupol eintrafen. Vielleicht wussten sie mehr als wir. Diesen Fingerzeig konnten wir dann nicht mehr ignorieren”, erzählt Olena Solotarewa.
Olena ist Freiwillige. 2014 war sie verstört und voller Angst, so wie auch viele andere in Mariupol. Auf den Straßen waren Menschen mit pro-russischen Ansichten und russischen Fahnen präsent, wer für die Ukraine war, blieb unsichtbar. Und so hatte Olena für einige Zeit das Gefühl, ganz allein zu sein.
„Beim Auswerten der Kommentare zu bestimmten Posts in den Sozialen Netzwerken stieß ich dann auf Gleichgesinnte”, erinnert sich Olena. „Obwohl ich schon gar nicht mehr weiß, wie genau ich Olena Abramowas Bekanntschaft gemacht habe. Es kommt mir vor, als würden wir einander schon ein Leben lang kennen.” Auch Olena Abramowa ist seit 2014 als Freiwillige aktiv.
Olena Solotarewa und Olena Abramowa. Foto: Vira Protskykh
„Ich erinnere mich an das Entsetzen, an diese klebrige, bedrängende Angst, mit der ich im Frühjahr 2014 lebte. Ich hatte ständig das Gefühl, mich in einem Traum zu befinden. Alles, was da draußen geschah, schien mir irreal, wie in einem Film. Aber dann gehst du raus und merkst, das ist kein Film …”
Jetzt ist dieses Entsetzen nicht mehr da. Warum? Vielleicht, weil Olena Abramowa nicht mehr allein ist. Und weil sie sich schon an die Realität des Krieges gewöhnt hat. Weil sie Erfahrung damit hat.
„Schon damals, 2014, habe ich mich entschieden, Mariupol niemals zu verlassen. Wo sollte ich denn auch hin? Hier habe ich meine Wohnung, meine Arbeit. Wo würde ich denn jetzt einen Job finden? Und wenn man bleibt – dann muss man eben auch kämpfen. Schießen wäre wohl nichts für mich, aber ich kann mich trotzdem für die Landesverteidigung nützlich machen. Ich werde mich auf jeden Fall einbringen. Und wenn ich nur Borschtsch koche”, sagt Olena Abramowa.
Die große Frage ist, ob die militärische Verteidigung des Landes überhaupt nötig sein wird.
Der Unternehmer und Freiwillige Dmytro Wychodzew hat keinen Zweifel daran, dass Putin zum Angriff übergehen wird.
„Meiner Ansicht nach wird es sehr bald zum Krieg kommen, noch dieses Jahr. Russland ist bereit. Sanktionen fürchtet man dort nicht und hat sie schon seit langem einkalkuliert. Die Russen haben ihre Präsenz an den Grenzen verstärkt und sind bereit, jeden Moment loszuschlagen. Und was das Wichtigste ist – das Zeitfenster für eine militärische Lösung der Ukrainefrage wird mit jedem Jahr schmaler. Unsere militärische Stärke wird bei fortlaufender Weiterentwicklung und Hochrüstung der Armee mit westlichen Waffen schon in wenigen Jahren so stark sein, dass wir uns erfolgreich verteidigen könnten und Krieg keine Option mehr ist. Die heutige russische Truppenstärke an der Grenze reicht nicht aus, um breitflächig das ganze Land einzunehmen. Aber das müssen die Russen ja auch nicht. Sie besetzen Kyjiw und einige andere strategisch wichtige Städte – und fertig. Mit ihrer Übermacht bei den Luftstreitkräften und in der Raketentechnik werden sie Schläge auf die kritische Infrastruktur verüben, Kyjiw einnehmen und dort ihre Marionetten installieren. Als Resultat des Krieges werden wir ein pro-russisches Regime und ein zerstörtes Land haben. Das wird uns auf Jahrzehnte vom Westen entfernen und uns den Weg in die EU und die NATO versperren”, sagt Dmytro Wychodzew.
Obwohl er von diesem schrecklichen Szenario vollkommen überzeugt ist und es als unausweichlich betrachtet, verspürt er keine Angst, geschweige denn Panik. Er ist von einem ruhigen Selbstvertrauen erfüllt und weiß, was jetzt nottut.
Mariupol liegt am Asowschen Meer. Foto: Vira Protskykh
„Hier wissen wir ja schon, wie man sich bei einem Angriff verhält. In meinem Umfeld haben alle schon lange ihre Pläne gemacht, wir wissen, was wir tun werden. Ich werde in die «Landesverteidigung» (auf Ukrainisch: Teroborona, eine lokale Vereinigung, die zum Teil aus Militärangehörigen, zum Teil aus Freiwilligen Zivilisten besteht) eintreten. Ich werde mein Land verteidigen.” Er spricht ruhig, fast beiläufig. Für ihn wie für viele andere in der Ukraine haben solche Worte ihr Pathos längst verloren. Sie gehören einfach zum Leben dazu.
Das Engagement für ein Leben in Frieden gehört für viele ebenso dazu. Es hätte einfach keinen Sinn, auf ein Verschwinden der Bedrohung zu warten.
„Wir haben 2014 etwas unschätzbar Wertvolles geschenkt bekommen: Wir haben nicht nur begriffen, was es bedeutet, ein Vaterland zu haben, sondern auch, was Freiheit ist. Ich weiß nicht, ob es wirklich zu einem großflächigen Krieg kommt. Wir hoffen es nicht. Aber in unserer Lage müssen wir, ähnlich wie die Israelis, stets und ständig darauf gefasst sein, unser Land zu verteidigen. Wer das nicht kann, muss lernen, wie man sich schützt, und darüber nachdenken, was er oder sie anderweitig für die Ukraine tun kann”, sagt Dmytro Tschytschera.
2014 unterstützte er mit seiner Organisation „Schidna Brama” aktiv die Soldat*innen an der Front. Später, im Zuge des Ausbaus der Armee, richtete er sein Engagement auf zivile Projekte. Ihm geht es darum, die Ukraine zu einem erfolgreichen Land zu machen.
„Der Erfolg der Ukraine ist der Erfolg der einzelnen Ukrainer*innen. Wir haben nicht genug selbstbewusste Menschen. Es fehlt an Kenntnissen, Bildung, innerer Freiheit. Die Regionen im Osten sind Industriegebiete. Jahrzehntelang haben die Menschen dort über Generationen hinweg in Fabriken gearbeitet und sich über nichts Gedanken gemacht. Es kostet Mühe, diesen Zustand zu ändern. Darum haben wir uns entschlossen, genau da anzusetzen – zu unterrichten, zu unterstützen, unternehmerische Aktivität anzuregen, Menschen zu motivieren, ihr eigenes Geschäft oder einen Betrieb auf die Beine zu stellen. Wirtschaftlich erfolgreich zu werden. So wurde ‚Chalabuda‘, die ‚Hütte‘, geboren. ‚Chalabuda‘ war auch von 2017 bis 2020 Partnerorganisation der Kyjiwer Gespräche in Mariupol.
Dmytro Tschytschera, Gründer des Hubs Chalabuda. Foto: Vira Protskykh
Ich wurde mal gefragt, ob ich auf den Punkt bringen könnte, wofür ‚Chalabuda‘ gut ist. Mir fiel da nur ein Wort ein – für die Freiheit. Um frei und unabhängig zu sein, indem man kreative Ideen und Fähigkeiten verwirklicht, auf unternehmerisches Handeln vertraut und gegen die Korruption eintritt.”
„Chalabuda” ist heute die einzige unabhängige Bildungsplattform in Mariupol. Dmytro Tschytschera will die Mission seiner Organisation ganz bewusst im zivilen Spektrum halten.
„Im Moment gibt es bei uns nur Initiativen, die sich auf die Entwicklung und Unterstützung von Kleinunternehmen und auf kreative Entfaltung und Selbstverwirklichung fokussieren, außerdem IT-Kurse für Erwachsene und Kinder. Die Armee braucht unsere Hilfe nicht mehr, Gott sei Dank. Freiwillige helfen dort nach wie vor mit, aber punktuell und in begrenztem Umfang. Es geht nicht mehr um Proviant, Wasser und Schuhe, sondern um speziellere Anfragen, über die gemeinhin nicht berichtet wird”, sagt er. Allerdings hegt Dmytro Tschytschera auch keinen Zweifel daran, dass es bei konkretem Bedarf nicht lange dauern würde, bis sich die Mariupoler Aktivist*innen wieder organisieren würden. Die Jahre 2014-2015 wären dafür die Blaupause, die beweist, was möglich ist.
„Dass sich im Hinblick auf die militärische Bedrohung jetzt noch keine neuen Bürger*inneninitiativen formiert haben, ist meiner Ansicht nach damit zu erklären”, so Olena Solotarewa, „dass noch niemand einschätzen kann, was gebraucht wird, wenn Putin plötzlich losschlägt. Wir wissen absolut, was zu tun ist, wenn es sich um hybride Angriffe handelt. In den acht Jahren, die dieser Krieg jetzt dauert, haben wir es gelernt, solchen Herausforderungen zu begegnen. Aber wenn es zu einem großflächigen Angriffskrieg kommt, werden die Kriegshandlungen ganz anderer Natur sein. Es ist möglich, dass Putin noch nicht einmal die Grenze überschreiten wird. Er kann unsere Städte mit Fliegerbomben und Artillerie von seinem Territorium aus zerstören. Wie werden sich die Menschen verhalten, wenn ihre Häuser bombardiert werden, ihre Stadtverwaltungen, die Energieversorgung? Wenn es kein Gas mehr gibt, keinen Strom, kein Internet? Sollten wir dann der Stadt beistehen, an der Front helfen oder sollten pro-ukrainische Aktivist*innen wie wir Mariupol verlassen, damit uns die Armee nicht schützen muss? Dazu gibt es noch keine einheitliche Meinung.”
Ein Straßenplakat in Mariupol: "Unterschiedlich sein - stark sein". Foto: Vira Protskykh
Diese Unsicherheit ist eine große Belastung. Die Stadt selbst trifft demonstrativ keine Vorbereitungen auf eine mögliche Offensive des Kreml. Das wirft für diejenigen, die aufmerksam die Berichterstattung in den Medien verfolgen, durchaus Fragen auf. Kateryna Suchomlinowa, Abgeordnete, Freiwillige und Repräsentantin des Malteser-Hilfswerks, brachte das Thema in der Januar-Sitzung des Mariupoler Stadtrats auf die Tagesordnung: „Ein offener Krieg bricht vielleicht nie aus, er kann aber genauso gut morgen losgehen. Dann laufen die Leute natürlich zu den Behörden, zu den Stadtteilverwaltungen, zu den Zuständigen in ihren Wohnblocks und wollen Hilfe, wollen wissen, wo sie sich schützen können, was sie tun sollen. Und dann hat keiner eine Antwort.”
Die Behörden behaupten hingegen, sie hätten sehr wohl vorgesorgt. Sie würden nur nichts sagen, um keine Panik auszulösen.
Kateryna Suchomlinowa beim Erste-Hilfe-Training. Foto: Vira Protskykh
„Aber was soll hier der Verweis auf Panik?”, widerspricht Kyrylo Wyschnjakow hitzig. Er steht einer Eigentümergemeinschaft in einer Mariupoler Wohnsiedlung vor. „Bei einem Luftangriff kommen die Leute doch zu mir und verlangen, dass ich die Keller öffne. Und ich habe keine Ahnung, ob wir dort überhaupt sicher wären oder nicht vielmehr unter Betonmassen begraben werden würden. Ich habe keine Antwort auf diese Frage. Aber ich sollte eine haben!”
Mariupol verfügt zum gegenwärtigen Zeitpunkt über 130 Luftschutzkeller. Nach den Informationen von Kateryna Suchomlinowa wurden allerdings nur fünf davon instandgesetzt. Niemand hat berechnet, welches Fassungsvermögen sie haben. Es gibt keine Erste-Hilfe-Ausstattung und keine Wasserversorgung für den Fall, dass die Menschen dort über längere Zeit ausharren müssen.
„Ich habe das vor über einem Jahr bei einem Treffen der Führungsebene der Nationalen Polizei angesprochen. Alle stimmten mir zu, aber anschließend hat niemand etwas unternommen. Allerdings zeigt die Erfahrung aus dem Osten auch, dass noch wichtiger als eine Sanierung der Schutzkeller die Schulung der Menschen ist. Die Leute müssen grundlegende Fähigkeiten erlernen, wie man einen Druckverband anlegt, wie man Blutungen stoppt. Kenntnisse in Erster Hilfe können sich als das Allerwertvollste erweisen. Aber auch auf diesem Gebiet wird die gesamte Arbeit von Freiwilligen und NGOs geleistet.”
Kateryna Suchomlinowa spricht mit Leidenschaft über dieses Thema, es brennt ihr auf den Nägeln. Als Repräsentantin des Malteser-Hilfsdiensts bringt sie seit Jahren Menschen auf freiwilliger Basis bei, Leben zu retten.
„In letzter Zeit ist die Nachfrage nach Erste-Hilfe-Kursen signifikant angestiegen. Alle meine Termine im Februar sind voll. Ich schaffe es kaum noch! Die Versorgung Verwundeter wird ja auf dem Boden kniend neben dem liegenden Opfer geübt, meine Knie schmerzen davon wie verrückt. Wir brauchen Verstärkung. Wir sprechen jetzt motivierte Menschen unter unseren Kursabsolvent*innen an, ob sie ihre Kenntnisse weitergeben wollen. Wir arbeiten mit Sanitäter*innen und Polizist*innen. Aber das reicht alles nicht aus.”
Denkmal für die Menschen, die infolge eines Beschusses auf Mariupols Bezirk Shidnyj am 24. Januar 2015 ums Leben gekommen sind. Foto: V. Protskykh
„Wir sollten hier jederzeit auf Angriffe seitens des Kreml vorbereitet sein”, meint Tschytschera, „nicht nur, wenn Spannungen an der Grenze überhandnehmen. Unsere Regierung fürchtet sich vor Panik? Aber Panik entsteht doch nicht, wenn Schulkinder eine Evakuierung üben oder Luftschutzkeller auf Vordermann gebracht werden. Panik entsteht, wenn Bomben fallen und keiner weiß, wohin man flüchten oder was man tun soll.”
Heute ist in Mariupol von Panik nichts zu spüren. Auch den Krieg bemerkt man nicht. Man erwähnt ihn weder beim Einkaufen im Supermarkt, noch diskutiert man im Bus darüber. Die Menschen leben ihr friedliches Leben, und ihre Alltagsprobleme sind viel drängender als die Frage nach dem gepackten Notfallkoffer. Journalist*innen und Politiker*innen suchen vergeblich nach Beunruhigung oder Nervosität in den Augen der Menschen. In den Gesichtern der Mariupoler*innen, in den Straßenzügen, an Häuserwänden suchen sie nach Indizien des Krieges, hören sich um, ob irgendwo schon seine Stimme spricht. Sie wollen eine Antwort auf ihre Frage: Was wird sein, wenn … Doch sie bekommen keine.
Heute reist die Welt nach Mariupol, um Vorzeichen einer wachsenden Bedrohung zu finden. Vielleicht würde sich die Reise aber zu einem ganz anderen Zweck lohnen – um dort einer großen Ruhe zu begegnen, und dem Bewusstsein: Panik bringt nichts, aber es gilt, vorbereitet zu sein.
Aus dem Ukrainischen von Beatrix Kersten.