Die Kyjiwer Gespräche sind in diesem Jahr fünfzehn geworden. Die Leiterinnen des Berliner und des Kyjiwer Büros Silke Hüper und Tetiana Lopashchuk reflektieren in diesem Gespräch über die Entwicklung des Projekts, seine Erfolge und Perspektiven.
WARUM SICH DIE KYJIWER GESPRÄCHE IN DEN UKRAINISCHEN REGIONEN ENGAGIEREN
Die Dezentralisierung in der Ukraine hat neue Entwicklungschancen gebracht, aber auch die seit langem schon bestehenden Probleme der ukrainischen Regionen offengelegt. Die Ausweitung der administrativen und fiskalen Zuständigkeiten der lokalen Selbstverwaltung hat die Verantwortung für die territoriale Entwicklung den Kommunen übertragen. Viele stellte dies vor große Herausforderungen, da es an Personal, Managementkompetenzen und Modellen für eine Kooperation verschiedener Stakeholdergruppen fehlte.
Diese Mängel verhinderten dann die Ausschöpfung der im Rahmen der Denzentralisierungsreform verfügbaren Instrumente der Lokalentwicklung.
Die Zusammenarbeit der Kyjiwer Gespräche mit AktivistInnen aus den verschiedenen Regionen der Ukraine hat gezeigt, dass es ausreichend aktive und potenzielle Akteure des Wandels in Städten und Dörfern gibt.
Diese finden sich im Kreis von Regierungs- und Behördenangehörigen ebenso wie unter zivilgesellschaftlichen AktivistInnen, UnternehmerInnen oder in Jugendinitiativen. Ihrer alle Tätigkeit führt aber bisher nicht zu einem systemischen Wandel und einem aktiven Ausbau einer starken, sich selbst perpetuierenden Zivilgesellschaft auf der lokalen Ebene. Die Aktiven benötigen Unterstützung in Form von Consulting und Ressourcen, um Ideen in die Tat umsetzen zu können. Das Weiterbildungsprogramm der Kyjiwer Gespräche stellt beides zur Verfügung. Die Projektleiterinnen Tetiana Lopashchuk und Silke Hüper berichten über die geleistete Begleitung und die erzielten Erfolge beim Aufbau der ukrainischen Zivilgesellschaft vor Ort.
AUSDAUER UND VERTRAUEN
„Wir arbeiten mit AktivistInnen, Regierungsangehörigen und jungen PolitikerInnen vor Ort. Oft sind sie in der Minderheit und verfügen nicht über ausreichend Einfluss, um Dinge schnell ändern zu können. Oft rät man ihnen, in die regionalen Zentren oder nach Kyjiw zu gehen. Doch sie bleiben und setzen sich weiter ein”, sagt Tetiana Lopashchuk.
Mit jedem Jahr ihrer Arbeit für die Kyjiwer Gespräche lernt sie mehr Menschen aus den kleineren Städten der Ukraine kennen, die trotz der Schwäche der Zivilgesellschaft, schwieriger wirtschaftlicher Bedingungen und einer nicht selten seit Jahrzehnten quasi unveränderten politischen Agenda nach einer neuen Vision für ihre Gemeinden und Gebiete suchen und sich als Gleichgesinnte zusammenschließen. Und mit jedem Jahr motivieren ihre Ausdauer und ihr Wunsch, breiter zu denken, Tetiana immer mehr.
Auch Silke Hüper spürt eine große Energie in den lokalen Gemeinschaften, die über die Programme der Kyjiwer Gespräche begründet oder bestärkt wurden, sowie auch in dem landesweiten Netzwerk, worin sich AktivistInnen regionenübergreifend zusammengefunden haben:
„Die Player und Akteure des Wandels, mit denen wir zusammenarbeiten, sind sehr wichtig, damit die Menschen in den Kleinstädten miteinander zu sprechen beginnen. Es geht darum, eine demokratische Kultur der Zusammenarbeit zwischen Menschen aufzubauen, die zuvor nie gemeinsam gehandelt haben, zwischen Sektoren, die sich nur aus der Ferne beäugt haben. Es geht darum, Vertrauen zwischen verschiedenen Gruppen zu stiften und Möglichkeiten aufzuzeigen, wie Interessen gemeinsam verfolgt werden können. Das ist wichtig, damit die Regionen wie das Land als Ganzes stabil bleiben und sich weiterentwickeln.”
Das Weiterbildungsprogramm der Kyjiwer Gespräche verfolgt die Zielsetzung, AktivistInnen aus den ukrainischen Regionen mit Instrumenten zu versehen, mithilfe derer sie Entwicklungsprojekte für ihre Gemeinschaften besser planen und gemeinsam umsetzen können.
EIN SCHRITT RICHTUNG WANDEL ABSEITS DES ZENTRUMS
Die Kyjiwer Gespräche als deutsch-ukrainische Plattform zur Unterstützung von Akteuren des Wandels gibt es bereits seit 15 Jahren. Auf den Regionen liegt das Augenmerk erst seit sechs Jahren. Bis 2014 tauschte das Team sich zwischen den beiden Hauptstädten Kyjiw und Berlin aus.
„Nach dem Euromaidan wurde klar, dass wir etwas zur Stärkung der Zivilgesellschaft unternehmen und diejenigen Menschen ansprechen müssen, die sich in ihren Regionen und Gemeinden für Veränderungen einsetzen. Damals stand das noch im Zeichen der Annexion der Krim und der einsetzenden russischen Aggression gegen die Ukraine. Im Fokus stand für uns daher die Unterstützung von Initiativen im Osten und Süden des Landes, aber wir legten unser Vorgehen so an, dass im Verlauf weitere Landesteile repräsentiert würden.”
Tetiana Lopashchuk nennt die Städte, in denen die Kyjiwer Gespräche 2014 begannen, ein Netzwerk aus Partner-NGOs aufzubauen: Dnipro, Iwano-Frankiwsk, Odessa, Charkiw und Tscherkassy: „Die ersten beiden Jahre waren eine Pilotphase. Wir wollten herausfinden, ob bei den NGOs überhaupt Interesse bestand. Es stellte sich heraus, dass in den Regionen das Bedürfnis nach Wandel sogar noch größer war als in Kyjiw. Uns wurde klar, dass wir tiefer in die Arbeit in den Regionen würden einsteigen müssen, nachdem wir uns zunächst nur auf die regionalen Zentren konzentriert hatten”, berichtet Tetiana.
Silke Hüper ist überzeugt, dass die Etablierung neuer Werte und der positive Richtungswechsel der ukrainischen Gesellschaft nur dann voll realisiert werden können, wenn sie sich nicht nur punktuell durchsetzen. So viele Personen und Gemeinschaften wie möglich müssten in diesen Prozess einbezogen werden. Das sei auch für den gesellschaftlichen Zusammenhalt wichtig:
„Die Idee, einen Dialog zwischen den Regionen herbeizuführen, hat sich ausgezahlt. Wir sehen ja, auf welch großes Interesse sie überall stößt. Das sind auch die Nachwirkungen des Euromaidan. Die Gesellschaft wollte sich selbst besser verstehen: Wer sind wir als Ukrainer? Was ist unsere Identität? Was macht unsere Gesellschaft aus? Wie leben wir und wie wollen wir leben? Was ist die Ukraine? Im Dialog der Regionen geben wir den Partnerorganisationen und allen Teilnehmenden die Möglichkeit, einander kennenzulernen. In den Jahren 2015 und 2016 war die interregionale Mobilität ansonsten eher gering.”
EIN NETZWERK DER PARTNER
Als die innenpolitische und wirtschaftliche Lage in der Ukraine nach der Revolution der Würde und dem Beginn der russischen Aggression wieder stabiler geworden war, überführten die Kyjiwer Gespräche das Projekt von der Pilotphase in die permanente Phase. 2017 kamen Lwiw, Mykolajiw, Mariupol und Slowjansk ins Netzwerk. Die Anbindung der letzten beiden Städte war notwendig und strategisch wichtig, angesichts der dortigen Erfahrung mit der russischen Besetzung und ihrer Nähe zur Frontlinie. Insbesondere in Mariupol und Slowjansk waren viele aktive RepräsentantInnen der Zivilgesellschaft entschlossen, auch langfristige Initiativen umzusetzen. Der Beitritt der Lwiwer Initiativen in das Netzwerk erlaubte die Ausweitung des Dialogs zwischen verschiedenen Landesteilen. 2019 dann formierte sich das Netzwerk in seiner heutigen Gestalt, als auch zivilgesellschaftliche AktivistInnen aus Sakarpattja zu Projektpartnern wurden.
„Eine multiethnische, multikulturelle Region. Das sind Umstände, die oft für eine Destabilisierung missbraucht werden. Sakarpattja grenzt zudem an diverse Länder der Europäischen Union, zu denen ein deutlich spürbares Gefälle besteht. Wir sind ein Projekt ohne dezidierte politische Anbindung. Uns ist es wichtig, aktive BürgerInnen zu unterstützen und Kapazitäten aufzubauen, die zur Lösung der Probleme einer Region beitragen”, so Tetiana Lopashchuk.
In jeder Partnerregion suchten die Kyjiwer Gespräche nach NGOs, die über genügend Kompetenzen verfügen und im lokalen Kontext ausreichend integriert sind, um Initiativen effektiv durchzuführen. In den Worten von Tetiana Lopashchuk ist es wichtig, dass lokale Akteure die Probleme ihrer Region wirklich durchdringen und eine möglichst umfassende Vision haben, wie sie zu lösen sind. Um solche Partner herauszufiltern, wurden offene Wettbewerbe ausgeschrieben.
DIE GROSSEN WÜNSCHE KLEINER STÄDTE
In der ersten Phase des Regionalprojekts arbeiteten die Kyjiwer Gespräche zumeist mit dem Format der Publikumsdiskussion zu aktuellen gesellschaftlichen Themen und boten in den Regionalzentren persönliche Weiterbildungsmöglichkeiten an. In 2017-2018 änderte sich das Format hin zu einer nunmehr intensiven und auch dauerhaften Zusammenarbeit zwischen RegionalkoordinatorInnen und AktivistInnen aus kleinen Städten und Dörfern. Weiterhin organisierte das Team der Kyjiwer Gespräche die 2015 begonnene, gezielte Förderung von Projektideen der Teilnehmenden über die Ausschreibung des Kleinprojektewettbewerbs.
„Zunächst war die Palette der Projekte sehr breit gefächert, von der Entwicklung kleiner Gemeinden bis zur Partizipation in Entscheidungsprozessen. Unsere RegionalkoordinatorInnen fungierten als Scouts, die vor Ort in den kleinen Städten und Dörfern nach den Menschen suchten, die Veränderungen anstoßen und sich für neue Initiativen engagieren wollten. Aus diesem breiten Spektrum haben wir inzwischen die Schlüsselthemen unserer Partnerorganisationen ermittelt und ihre strategischen Arbeitsfelder umrissen. Dabei lag die Aufmerksamkeit auch darauf, welche Themen in den Gemeinden gerade wichtig waren, worauf die Teilnehmenden positiv reagierten und wo Potenziale einer erfolgreichen Umsetzung lagen. Es war ein offener Prozess der Suche und der Reflexion. So kamen wir zu den Clustern, in denen wir heute arbeiten”, so Silke Hüper.
Nachdem der Kontakt zu den kleineren Städten hergestellt und der Bedarf und die Chancen der jeweiligen Entwicklung vor Ort ermittelt war, fokussierten die Kyjiwer Gespräche ihre Tätigkeit in den Regionen auf vier Kernbereiche: Instrumente der Bürgerbeteiligung, Smart-City-Dienste, Jugendpolitik und die Etablierung Dritter Orte. Auf die eine oder andere Art geht es in jedem der Cluster darum, Kooperationskompetenz unter den örtlichen Repräsentanten im Sinne der Lösung bestehender Probleme zu stärken.
Instrumente der Bürgerbeteiligung fördern den Austausch zwischen EinwohnerInnen und städtischen Behörden auch jenseits von Wahlen. Smart-City-Dienstleistungen machen die kommunale Infrastruktur einschließlich der Behörden, verständlicher und zugänglicher für die BürgerInnen. Der Einbezug junger Menschen in die Lösung kommunaler Probleme ist ein Beitrag zur Heranbildung mündiger BürgerInnen und sichert einer Kommune künftige Entwicklungsperspektiven.
Die Schaffung Dritter Orte stattet eine Siedlungsinfrastruktur mit Plätzen aus, auf denen BürgerInnen sich zum Austausch treffen und über die sie ins öffentliche Leben einbezogen werden können.
Silke Hüper berichtet, dass die Kyjiwer Gespräche 2019 zum ersten Mal ein vollständiges Weiterbildungsprogramm anboten. Anstelle der von den RegionalkoordinatorInnen und ExpertInnen vor Ort durchgeführten, individuellen Coachings für Teilnehmende trat ein ausgereiftes, modulares Weiterbildungsprogramm mit verschiedenen Seminaren. Jedes widmete sich einem bestimmten Aspekt der öffentlichkeits- oder projektbezogenen Tätigkeit im Rahmen des betreffenden Clusters. Die Teams der teilnehmenden Städte arbeiteten während der Weiterbildung an der eigenen Projektidee und hatten die Möglichkeit, diese beim Kleinprojektewettbewerb der Kyjiwer Gespräche einzureichen und Fördermittel zu ihrer Implementierung zu gewinnen.
VON EINZELFÄLLEN ZUM SYSTEMWANDEL
„Unsere KollegInnen in den Regionen geben nicht nur ihr Wissen und ihre Expertise an die Teilnehmenden weiter. Wir haben 2019 auch angefangen, die Initiativen der Teilnehmenden umfassender und tiefgreifender zu unterstützen. Das gibt uns auch die Möglichkeit, deren Arbeit und die in den kleinen Städten erreichten Veränderungen besser zu beobachten. Neu im Instrumentenkasten des Projekts sind die Mentorenschaften, die ganz organisch die Arbeit ergänzen. Ganz offenbar sind unsere KollegInnen und Partnerorganisationen so kompetent, dass sie sich dieser Erweiterung wirklich optimal zu bedienen wissen. Wir sehen, dass unter den Teilnehmenden vielfach der Wunsch besteht, selbst Mentoren zu werden und andere unterstützen zu können. Das ist ein sehr positiver Indikator für die Nachhaltigkeit des Ansatzes”, sagt Silke Hüper auf die Frage nach den Erfolgen des Weiterbildungsprogramms der Kyjiwer Gespräche in den Regionen.
Obwohl es noch schwer ist, einen strukturellen Wandel auch in der Tiefe festzumachen, ist das Team der Kyjiwer Gespräche stolz auf die vielen Erfolgsgeschichten der Teilnehmenden:
„Viele der Erfolgsgeschichten können wir über unsere Kleinprojekteförderung weiter verfolgen, im Rahmen derer Teilnehmende an unserem Bildungsprogramm Zuwendungen erhalten haben, um ihre Idee umzusetzen. Wie bei EasyWay in Druschkiwka, wo Tracker für öffentliche Verkehrsmittel zum Einsatz gebracht wurden. Auch Drohobytsch ist ein tolles Beispiel, wo unsere Zusammenarbeit 2017-2018 in 2019-2020 Früchte getragen hat. Wir begleiten die Menschen langfristig, wir leisten Hilfestellung, wir bilden sie fort, aber wir begreifen auch, dass sich bedeutende Veränderungen im großen Stil erst viel später zeigen”, erklärte Tetiana Lopashchuk.
Silke Hüper stimmt ihr zu und ergänzt, dass sich das Regionalprojekt der Kyjiwer Gespräche gerade dadurch auszeichnet, dass es bei den EinwohnerInnen kleiner Städte einen Mentalitätswandel herbeizuführen hilft und diesen auch beobachtet.
Die Veränderungen in der Ukraine im Allgemeinen und die Dezentralisierungsreform im Besonderen machen den Menschen klar, dass das Schicksal ihrer Gemeinschaft, die Gestalt ihrer Städte und ihre persönlichen Lebenschancen in ihren eigenen Händen liegen. Die Kyjiwer Gespräche sind Teil einer Welle, die diesen Wandel vorantreibt.
„Wird in der Region im Laufe eines Jahres an nur einem großen Thema gearbeitet, lassen sich die Bedürfnisse der Kommunen besser einschätzen und viel gezielter und tiefgreifender Hilfestellung leisten. Im vorigen Jahr arbeiteten zwei Regionen an nur einem Thema, in diesem Jahr sind es drei. Das schafft einen gestärkten Zusammenhalt und ein besseres Verständnis für die entstehenden Mechanismen. Wir erwarten in diesem Zuge auch eine vertiefte Kooperation zwischen den Regionen und gehen davon aus, dass sich nach dem Weiterbildungsprogramm gemeinsame Ideen und Projekte herausbilden. Es ist aber noch zu früh, die interregionale Komponente wirklich zu beschreiben und einzuschätzen. Allerdings wissen wir jetzt schon, dass unsere Instrumente und unser Ansatz nicht ausreichen, um eine interregionale Kooperation im großen Umfang anzustoßen. Daran werden wir arbeiten müssen”, fasst Tetiana Lopashchuk zusammen.
GEMEINSCHAFT ALS BASIS FÜR WANDEL
Das Weiterbildungsprogramm der Kyjiwer Gespräche wurde 2019 von ProjektmanagerInnen und RegionalkoordinatorInnen mit einer klaren Perspektive auch für das Folgejahr absolviert. Einige Regionen wählten ein anderes Cluster, doch in den meisten Fällen blieben die beteiligten Städte und die Zusammensetzung der Teams gleich.
So konnten unvollendete Projekte abgeschlossen und die erworbenen Kompetenzen bei den Teilnehmenden weiter vertieft werden. Unter Verzicht auf die wegen der Corona-Quarantäne abgesagten Treffen vor Ort fanden die Weiterbildungsmodule dennoch online statt und zum Kleinprojektewettbewerb wurden 35 Projekte eingereicht. Einen Vorteil der Projektstruktur der Kyjiwer Gespräche sieht Tetiana Lopashchuk darin, dass flexibel auf die Bedürfnisse der Gemeinschaften eingegangen werden kann und die Aktivitäten entsprechend darauf abgestellt. Projekte, die für drei bis fünf Jahre in die Zukunft angelegt sind, können das oft nicht leisten. Dieser Umstand erleichterte eine an die Corona-Pandemie angepasste Planung.
„Zunächst hielten wir Webinare ab und stellten dann bei vielen um auf eine individuelle Arbeit, wo wir uns konkret über die nötigen Implementierungsschritte und die aktuellen Bedürfnisse austauschten. Natürlich können wir jetzt nicht im bisherigen Tempo weiterarbeiten. Die kommunalen Verantwortungsträger sind nun auf die Pandemie fokussiert. Wir versuchen ihnen mit Informationen zu helfen, beispielsweise zur Coronabekämpfung in Deutschland, aber wir verstehen, dass dies jetzt weniger relevant ist und es drängendere, praktische Anliegen gibt. Darum haben wir auch den Kleinprojektewettbewerb eine extra Rubrik hinzugefügt, die den Titel trug „Antworten auf die Pandemiefolgen in unserer Stadt”. Allerdings zeigten die Einreichungen klar, dass es der Mehrheit weiterhin darum ging, an den Themen weiterzuarbeiten, die sie zu Jahresanfang bereits beschäftigt hatten”, sagt Tetiana Lopashchuk.
Aus Sicht Silke Hüpers bestand der größte Verlust für das Weiterbildungsprogramm der Kyjiwer Gespräche im Jahr 2020 darin, dass aufgrund der Quarantäne keine Möglichkeit bestand, sich persönlich und vor Ort mit Erfahrungen in anderen Städten vertraut zu machen. Darunter fallen nicht nur die Netzwerkarbeit zwischen den verschiedenen ukrainischen Regionen, sondern auch die Reisen nach Deutschland, die 2019 Programmbestandteil gewesen waren. Gleichzeitig, so Hüper weiter, hätten auch die pandemiebedingt ausgesetzten öffentlichen Veranstaltungen Probleme nach sich gezogen. Konkrete soziale Themen (auch jenseits von COVID-19) hätten nicht diskutiert werden können und die Möglichkeit, Ideen vorzustellen und dafür um Unterstützung zu werben, sei weggebrochen. Das Weiterbildungsprogramm 2020 der Kyjiwer Gespräche sei deswegen zum Teil auch zur Plattform für Gemeinden und Regionen geworden, eben diese Anliegen zur Sprache zu bringen.
In diesem Herbst endete eine Legislaturperiode in den ukrainischen Regionen. Die Kommunalwahlen fielen zusammen mit dem Ende der Hauptphase der Dezentralisierungsreform und der administrativ-territorialen Neuorganisation. Ebenso ist von einem Umbruch bei den lokalen Eliten auszugehen. Tetiana Lopashchuk ruft noch einmal in Erinnerung, dass die Kyjiwer Gespräche nicht politisch angebunden sind. Dennoch würde auch für die ProjektmanagerInnen und die RegionalkoordinatorInnen die Zeit nach den Wahlen eine Zeit der Rückschau auf die Ergebnisse ihrer Arbeit in den vergangenen Jahren. Über seine Weiterbildungen hätte das Projekt einen Beitrag zur staatsbürgerlichen Bildung und der politischen Kultur der Eliten wie der BürgerInnen auf der lokalen Ebene geleistet. Nun müsse sich zeigen, welche Gestalt die Projekte der Teilnehmenden künftig annehmen und wofür sie sich engagieren.
„Die Kyjiwer Gespräche setzen für das nächste Jahr einen Schwerpunkt beim Aufbau unseres Alumni-Netzwerks. Wir möchten weiterhin mit diesen Menschen zusammenarbeiten. Obwohl das Projekt so groß angelegt ist, streben wir danach, zu unseren Partnern und allen Gleichgesinnten Kontakt zu halten. Und wir möchten eine horizontale, interregionale Kooperation ins Leben rufen. Ich denke, 2021 werden wir diesen interregionalen Aspekt definitiv vertiefen. Und nicht zu vergessen den internationalen Dialog Berlin - Kyjiw im Rahmen unserer Jahreskonferenzen”, meint Tetiana Lopashchuk abschließend.
Silke Hüper hebt hervor, dass das Alumni-Netzwerk der Kyjiwer Gespräche bereits Form annimmt und die Teilnehmenden sich sehr aktiv zeigen. Das dürfte es ermöglichen, das Sozialkapital zu sichern, das sich das Projekt in den vergangenen Jahren aufgebaut habe. Zudem entstünde so eine Ressource für alle Beteiligten: Zugang zu Kontakten, Vorbildern, Erfahrungen anderer.
„Wir planen auch strategisch für den finanziellen und politischen Fortbestand des Projekts. Mit verschiedenen PartnerInnen besprechen wir uns zur künftigen Arbeit der Kyjiwer Gespräche. Dabei beziehen wir in unsere Überlegungen den Wahlprozess im Herbst und den Ausgang der Wahlen durchaus ein. Die Kyjiwer Gespräche sind ja gerade deshalb als Projektformat so effektiv, weil sie flexibel sind und auf neue Umstände eingehen können. Ich halte das für einen großen Vorzug, denn so werden wir uns auch künftig die Möglichkeit erhalten, neue Fragen aufzugreifen”, fasst Silke Hüper abschließend zusammen.
Dieses Interview wurde im Sommer 2020 geführt.
Aus dem Ukrainischen von Beatrix Kersten.