BRIDGING THE DISTANCE – CORONA IN DEN REGIONEN. Serie, TEIL 1: UZHHOROD

Wie Zakarpattia, die westlichste Region der Ukraine, dem Coronavirus begegnet

Desinfizierung eines Busbahnhofs in Uzhhorod. Foto: Serhiy Hudak

Unsere neue Serie geht der Frage nach, wie sich die Ukraine und die ukrainische Zivilgesellschaft durch die Pandemie verändern. Dabei blicken wir insbesondere auf acht Regionen, in denen die Kiewer Gespräche aktiv sind.

Wir starten mit Zakarpattia. In diesem Text berichtet unser Autor davon, welche Rolle die Arbeitsmigration in der Krise spielt, wie die Freiwilligen-Bewegung auf die neue Herausforderung reagiert, sowie was lokal erlaubt und was verboten wird.

Dmytro Tuzhanskyi, Uschhorod

Seit über einem Monat geht die Ukraine gegen die Coronaviruspandemie mit Notfallmaßnahmen vor, die das Alltagsleben der Bevölkerung stark beeinflussen. Zu behaupten, das Land sei bereits ernsthaft mit dem Coronavirus in Berührung gekommen, wäre allerdings eine Übertreibung. Wie durch ein Wunder spielen sich derzeit in der Ukraine keine der pandemischen Schreckensszenarien ab, wie wir sie täglich in den Nachrichten aus anderen Ländern mitverfolgen können.

Auch in der Oblast Zakarpattia mit ihren vielen Grenzarbeitern und ihren vier Grenzen zu EU-Ländern, in denen die Zahlen der Infizierten und Toten mit jedem Tag massiv steigen, herrscht ein gewisses Gefühl der Sicherheit vor. Dabei hätte die westlichste Region der Ukraine objektiv betrachtet zum Epizentrum der Verbreitung des Virus im ganzen Land werden müssen. Zakarpattia ist zusammen mit der Oblast Lwiw das Tor des Landes nach Westen, durch das massenhaft Ukrainer aus den bereits vom Virus betroffenen Städten und Ländern Europas in die Heimat zurückgekehrt waren.

Die Einführung der Quarantänemaßnahmen in der Ukraine

Offiziell wurden in der Ukraine am 12. März die ersten Quarantänemaßnahmen verhängt, in deren Zuge die Grenzen geschlossen und Verbindungen des Linienverkehrs gekappt wurden, sowohl im Land als auch grenzüberschreitend. Die Entscheidungen fielen in der Woche, als die WHO die durch das Coronavirus ausgelöste Krankheit ihrer Ausbreitung nach offiziell als Pandemie einstufte und die meisten europäischen Länder ihre Grenzen schlossen, den Notstand ausriefen und Quarantänemaßnahmen einführten.

So handelten auch die Nachbarn der Ukraine, mit denen Zakarpattia die Grenze teilt ‑ die Slowakei, Ungarn, Rumänien und Polen. Allerdings hat die Ukraine bis heute nicht den Ausnahmezustand ausgerufen, nur Notfallmaßnahmen verhängt, was juristisch gesehen einen Unterschied darstellt. Im Falle des Ausnahmezustands können viel weitreichendere Einschränkungen der Bürgerrechte vorgenommen werden, von Ausgangssperren bis zur Absage von Wahlen. Im Rahmen des momentan geltenden Notfallregimes verbleiben Restriktionen überwiegend auf der Ebene von Empfehlungen. Diese Empfehlungen galten zunächst nur für drei Regionen, zu denen Zakarpattia nicht zählte, ab dem 25. März dann für das ganze Land.

Dabei musste Zakarpattia schon lange vor diesem Zeitpunkt als Gebiet mit erheblich erhöhtem Risiko gelten, wofür sich vielerlei Gründe anführen lassen. Dazu zählt mit Sicherheit, dass eine große Anzahl Menschen ausgerechnet in Italien arbeitet, das auf so tragische Weise zum Epizentrum der Coronaviruspandemie in Europa wurde. Auch nach den tragischen Nachrichten über Tausende Infizierte und die ersten Todesopfer pendelten noch die sogenannten „Italienbüsschen”, die Karawanen der Minibusse zwischen Italien und Zakarpattia, und verursachten wöchentlich an Dienstagen und Donnerstagen vor den Zollkontrollen ihre legendären Rückstaus.

Typisch für Uzhhorod: Ein Kirschbaum blüht in einem Hof. Foto des Autors

Geschlossene Grenzen und erste Opfer

Die Schließung der Grenzen war vermutlich das Schlüsselmoment, woran für die Menschen in Zakarpattia und die Oblast als solche die Quarantäne und die eingeleiteten Notfallmaßnahmen in ihrer Tragweite spürbar wurden und die Coronaviruspandemie auch weiterhin spürbar bleibt. In Zakarpattia ist man Mobilität und Auslandsreisen gewöhnt, insbesondere in die angrenzende EU.

Doch viele Menschen waren und sind weiterhin gezwungen, aus der EU nach Hause zurückzukehren, weil sie dort entweder nur prekär beschäftigt waren, sich ihre Arbeitsverhältnisse auf den Besitz eines zweiten Passes, vornehmlich des rumänischen oder ungarischen, stützten oder aber sie unter Ausnutzung der Visafreiheit im informellen Sektor tätig waren.

Viele Grenzarbeiter in festen Beschäftigungsverhältnissen hingegen sind in Europa geblieben, mit unklaren Perspektiven bezüglich ihrer Heimkehr. Mittlerweile wird unter Experten über die Frage diskutiert, ob die Grenzarbeiter aus Zakarpattia und der Ukraine im Ganzen nach der Coronaviruspandemie wieder in die EU zurückkehren, oder sich vielmehr Jobs auf dem heimischen Arbeitsmarkt suchen werden.

Da jedoch die eingeleiteten Maßnahmen mit den Osterfeiertagen und -ferien zusammenfielen, und noch kein Datum für eine Wiederöffnung der Grenzen feststeht, können bezüglich der Zukunft der Arbeiter noch keine Prognosen gewagt werden.

Von Anfang an war die Frage danach, welche der verhängten Maßnahmen wie einzuhalten waren, für die Auslandsrückkehrer sehr belastend. Zunächst war unklar, ob die Regeln bindend oder nur freiwillig zu befolgen waren und wer ihre Einhaltung kontrollieren sollte. Schließlich übernahmen lokale staatliche Stellen diese Aufgabe, stellten Listen von kürzlich aus dem Ausland zurückgekehrten Menschen zusammen und führten Kontrollen am Wohnort durch.

Währenddessen kam es zum ersten offiziell bestätigten Fall einer Coronavirusinfektion in Zakarpattia: Am 23. März wurde COVID-19 labortechnisch bei einer 68-Jährigen aus Mukachevo, der zweitgrößten Stadt der Oblast, bestätigt. Der Ehemann der Betroffenen war Anfang März aus Italien zurückgekehrt, sie selbst hatte nach dem Auftreten der ersten Symptome noch einen sonntäglichen Gottesdienst besucht. Glücklicherweise sind sowohl die Frau als auch die von ihr infizierten Kontaktpersonen bereits wieder genesen. Gleichzeitig wurde auch der erste Todesfall von Zakarpattia in Irshava bestätigt, einer 40 km von Mukachevo entfernt gelegenen Kleinstadt. Am 6. April verstarb dort eine 71-jährige Frau. Mit Stand vom 23. April zählt Zakarpattia 230 mit dem Coronavirus Infizierte und 6 Tote. 22 positiv getestete Menschen sind wieder genesen.

Kampf gegen Coronavirus in Uzhhorod. Foto: Serhiy Hudak

Zakarpattia in Quarantäne

Im vergangenen Quarantänemonat unterschied sich das Leben in der westlichsten Region der Ukraine kaum von der allgemeinen Situation im Land: über die durch die Zentralregierung auf höchster Ebene angeordneten Maßnahmen hinaus wurden keine zusätzlichen Einschränkungen verhängt. Neben Schulen und Bildungseinrichtungen bleiben also auch Geschäfte geschlossen, mit Ausnahme von Lebensmittelgeschäften und den Filialen einer bekannten Baumarktkette, was landesweit zu heißen Diskussionen über die Frage „und warum dürfen die?” führte.

Nicht geschlossen wurden in Zakarpattia die meisten der Niederlassungen und Produktionsstätten großer internationaler Firmen, die Teil einer globalen Lieferkette ausmachen. Als Beispiele lassen sich Firmen wie Jabil, Yazaki oder Flex nennen, die allerdings ihre Hygiene- und Sicherheitsvorschriften verschärften. Die weltbekannte Skifabrik von Fischer in Mukachevo, eines der wichtigsten Produktionszentren der österreichischen Marke, von wo aus etwa 27 der 31 Klubs der NHL (Nationale Eishockey Liga) mit Hockeyschlägern ausgerüstet werden, schloss zunächst für 14 Tage ihre Türen, hat den Betrieb mittlerweile aber wiederaufgenommen. 

Betriebe und Geschäfte haben begonnen, sich den neuen Bedingungen anzupassen. Viele in Zakarpattia sehen darin auch eine Nagelprobe in puncto Verantwortungsbewusstsein. Einzelne Speiselokale in der Region hatten beispielsweise bereits vor den offiziell geltenden Quarantänemaßnahmen ihre Betriebe geschlossen und auf Liefer- oder Abholmodus umgestellt.

Bei anderen gastronomischen Einrichtungen hingegen, die auch zuvor schon im Segment „Essen zum Mitnehmen” operierten, drängen sich nach wie vor die Besucher, ohne dass die staatlichen Autoritäten einschreiten würden, was in den sozialen Netzwerken auf viel Kritik trifft. Das Internet und die sozialen Medien sind über ihre Funktion als Informationsquelle hinaus zu Orten geworden, an denen man seine Zeit verbringt. Leider gehen weitaus nicht alle lokalen Medien in Zakarpattia bei der Zusammenstellung und Aufbereitung von Nachrichten mit der nötigen Sorgfalt vor, insbesondere was Faktenchecks angeht, sowohl zum Thema Coronavirus als auch allgemein.

Allerdings scheinen die Medien aber auch eine viel wichtigere Rolle als die staatlichen Behörden dabei gespielt zu haben, die Menschen von der Einhaltung der Quarantänemaßnahmen zu überzeugen. Zu nennen wäre ein Bewusstsein für die „zunehmend angespannte Lage” durch warnende Schlagzeilen und alarmierende Fakten sowie weiterhin die Aktivitäten lokaler Vordenker in den sozialen Netzwerken. In erster Linie aber waren die Stellungnahmen örtlicher Mediziner ausschlaggebend, die auf einmal zu Top-Bloggern und Nachrichtenmachern wurden, mit Tausenden von Zuschauern, Likes und einer großen Reichweite.

Im Hinblick auf die Evaluation des staatlichen Handelns in der Region muss zunächst festgehalten werden, dass der Oblastverwaltung von Zakarpattia seit Dezember letzten Jahres niemand mehr vorsteht. Nach der Entlassung des vorherigen Leiters kam es nicht zur Neubesetzung des Postens, weswegen der erste Stellvertreter kommissarisch das Amt ausfüllt. Es wurden bereits mehrere Kandidaten präsentiert, zudem war geplant, dass Staatspräsident Volodymyr Zelensky im Rahmen eines Blitzbesuchs in der Region am 16. April einen neuen Leiter der Oblastverwaltung vorstellen würde, doch diese Personalentscheidung verschwand im letzten Moment vom offiziellen Programm. Am 23. April wurde endlich der neue Gouverneur ernannt: Oleksiy Petrov, der ehemalige Leiter der Spionageabwehr beim ukrainischen Geheimdienst. Mit seiner Kandidatur hat man bereits vorm Zelensky-Besuch gerechnet. Er wurde persönlich vom Premierminister der Ukraine Denys Shmyhal vorgestellt. 

Diese Unsicherheit und das Fehlen einer formal berechtigten und kompetenten Führungspersönlichkeit haben im Handeln der Verwaltung und der staatlichen Stellen in der Region ihre Spuren hinterlassen. In der durch das Coronavirus noch erschwerten Situation schlagen sich die Behörden im Großen und Ganzen einigermaßen durch. Beispiele für echte Führungsqualitäten oder gar Charisma in dieser schwierigen Lage gibt es allerdings nicht. Im Gegenteil, die offenbar von ihrer eigenen Schlüsselfunktion überzeugten staatlichen Stellen haben sich so manches Mal von der Macht des Verbietens hinreißen lassen.

 

Eigene Verbote und Erlaubnisse 

Das schlagendste Beispiel ist die Entscheidung der Oblastverwaltung von Zakarpattia, zum katholischen Osterfest Einschränkungen der Bewegungsfreiheit zu verhängen. Juristisch gesehen gab es dazu eine Empfehlung, der kommissarische Leiter der Oblastverwaltung jedoch präsentierte die Maßnahme persönlich als bindendes Verbot und drohte mit einem Bußgeld von 17.000 Hryvnia bei Verstößen. Hier ein Auszug aus seiner Ankündigung: „Die regionale Kommission hat sich dafür entschieden, die Bewegungsfreiheit maximal einzuschränken. Dies bedeutet, dass Sie ab Samstag, den 11. April, 13 Uhr bis Montag , den 13. April, 6 Uhr das Haus nicht verlassen dürfen, Sie müssen zu Hause bleiben! […] An diesen Tagen sind die Vollzugsorgane in erhöhter Einsatzbereitschaft. Polizei und Nationalgarde werden aufgeboten. Quarantänebrecher müssen mit Strafen von 17.000 Hryvnia rechnen, es werden keine Ausnahmen gemacht.”

Unwichtig, dass dies mit ukrainischem Recht gar nicht vereinbar ist, und der Passus aus dem Originaltext der zuständigen Kommission nur eine Empfehlung ausspricht. Im Ergebnis wurde die Lage nur unübersichtlicher, die Menschen waren verwirrt, zudem es auch unverzüglich zu öffentlichen Stellungnahmen kam, die diese Einschränkungen als illegal brandmarkten. In der Vereinigten Territorialgemeinde Mukachevo wurde angekündigt, ihnen nicht Folge zu leisten.

Dort ging man sogar noch weiter: Trotz der Verbote auf zentraler Ebene erlaubten die Verordnungen der städtischen Kommission von Mukachevo die Öffnung von Baumärkten und Frisören im Stadtgebiet, schließlich auch die Öffnung sämtlicher Ladengeschäfte auch außerhalb der Lebensmittelbranche, natürlich nur unter Beachtung bestimmter Hygieneauflagen. Auch die Legalität dieser Entscheidungen wird in Frage gestellt, doch die Staatsanwaltschaft Zakarpattia, offiziell mit der Aufsicht in diesem Bereich betraut, hat sie noch nicht beanstandet.

Altstadt von Uzhhorod in Zeiten von Corona, Foto des Autors

Die Freiwilligenbewegung

Die Freiwilligenbewegung zählt mit Sicherheit zu den Faktoren, die bisher ein Aufkommen von Panik angesichts der Coronaviruspandemie in der Ukraine verhindert haben. Ihre Rolle erinnert an die Situation 2013-2014, im Laufe der  Maidan-Revolution, und später, als Russland die Krim annektierte und in den Osten der Ukraine einen Krieg brachte. Heute, da sich ganz normale Menschen im ganzen Land, und besonders in Zakarpattia, füreinander und für ihr medizinisches Personal zu engagieren beginnen, befindet sich die zahlenmäßig starke Freiwilligenbewegung erneut im Aufwind.

Am Anfang standen private Initiativen, um Ärzte an ihren Arbeitsplatz zu bringen, was nach dem Aussetzen des öffentlichen Nahverkehrs sehr wichtig geworden war.

Initiativen mit diesem Ziel entstanden in Berehovo, Uschhorod und andernorts, wo sie bis heute noch tätig sind. Die Menschen in Zakarpattia sammeln zudem mit Spendenaktionen hohe Summen für den Kauf von Masken und Schutzkleidung für Ärzte sowie für die Beschaffung von Desinfektionsmittel, das an Arztpraxen und Privatpersonen, vor allem an ältere Menschen, ausgeteilt wird.

Es war vorhersehbar, dass vor dem Hintergrund der im Herbst diesen Jahres anstehenden Lokalwahlen in der Ukraine sowie eines politisierten Alltags auch bestimmte Parteien und einzelne Politiker ihre PR-Strategien auf das Thema Coronavirus abstellen und in diesem Rahmen z.B. auch Masken, Desinfektionsmittel und sogar medizinisches Gerät in den Krankenhäusern verteilen würden.

Ungarn

In einem Telefongespräch zwischen dem ungarischen Außenminister Péter Szijjártó und seinem ukrainischen Kollegen Dmitry Kuleba kündigte die ungarische Seite an, Budapest werde eine humanitäre Hilfslieferung bestehend aus 100.000 Masken und 30.000 Paar Handschuhen zur Verteilung in Krankenhäusern in Zakarpattia auf den Weg bringen.

Dies ist eine weitere schöne Geste der ungarischen Seite in der Coronaviruspandemie und auch angesichts der schwierigen ungarisch-ukrainischen Beziehungen der letzten Jahre, die belastet wurden durch die Änderungen in der ukrainischen Gesetzgebung bezüglich des Status von Minderheitensprachen im Bildungswesen und der Entscheidung, stufenweise ab der 5. Klasse die Mehrzahl der Fächer auf Ukrainisch zu unterrichten.

Die Beziehungen zwischen Kyiv und Budapest haben sich in den letzten Monaten verbessert. Ungarn hat die Ukraine auch tatkräftig unterstützt, als es um die Rückführung ihrer Bürger nach der Grenzschließung ging. Die Zusammenarbeit in diesem Punkt ist noch nicht abgeschlossen.

Im Moment erwägen beide Länder die Öffnung des derzeit nur für den Warenverkehr oder mit Sondergenehmigung passierbaren Grenzübergangs Tisa-Zakhon für den Personentransport. Auch auf politischer Ebene kam es jüngst zu Fortschritten im Verhältnis der beiden Länder: Viktor Orbán hat Volodymyr Zelenskys Einladung zu einem Staatsbesuch in der Ukraine angenommen, sicherlich eine Gelegenheit, den „Sprachenstreit” beizulegen.

Alles dies steht im Kontrast zur Stimmung in der EU im Hinblick auf Ungarn nach der Annahme des Notstandsgesetzes zur Bekämpfung des Coronavirus, womit sich die Regierung Orbán weitreichende Sondervollmachten sicherte. Doch dies ist eine andere Geschichte und Diskussion.

Aus dem Ukrainischen von Beatrix Kersten.

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