Wie die Reform der Dezentra­lisierung den Regionen hilft

Welyka Dymerka, ein Dorf im Gebiet Kyjiw. Foto: I. Pylypchuk

Nach der Maidan-Revolution 2013/2014 setzte die Ukraine auf die Dezentralisierungsreform, die mit den Kommunalwahlen im Oktober 2020 ihren vorläufigen Höhepunkt erreicht hat. Den neuen vereinigten Territorialgemeinden steht deutlich mehr Geld zur Verfügung als früher, was auf die Verwirklichung der zivilgesellschaftlichen Initiativen großen Einfluss hat. Doch nicht alles läuft glatt, und der Stand der Dezentralisierung könnte vor Ort kaum unterschiedlicher sein.

Von Denis Trubetskoy, Kyjiw

2020 ist ein Schlüsseljahr für die ukrainische Dezentralisierung, die bis dato als eine der erfolgreichsten Reformen seit der Maidan-Revolution 2014 gilt. Vorher waren die Regionalverwaltungen des Landes von Kyjiw abhängig. Den Regionen waren in Sachen lokaler Budgets die Hände gebunden, wichtige Haushaltsentscheidungen mussten vom Zentrum genehmigt werden. Doch die Dezentralisierung sorgte für eine starke Umverteilung von Zuständigkeiten. Nun sind im ganzen Land die sogenannten Vereinigten Territorialgemeinden (VTG) entstanden, die eigene Haushalte und Rechte erhielten.

Bei einer VTG handelt es sich um mehrere Kommunen, die sich im Laufe der Reform zusammengeschlossen haben. Vorerst war dieser Prozess freiwillig. Doch mit Blick auf die Kommunalwahlen, die im Oktober 2020 stattfanden, mussten die fehlenden Gemeinden erst noch entstehen. So waren die Kommunalwahlen 2020 die ersten, die in den neuen Gemeinden ausgetragen wurden. Dies bedeutet, dass die Gemeinden nach den Wahlen mehr Geld zur Verfügung haben. Früher gingen die Steuern, die man in den Regionen zahlte, im ersten Schritt nach Kyjiw, bis sie dann mit zeitlichem Abstand und in reduzierter Größe im Rahmen des landesweiten Haushaltsprozesses zurückkamen.

Jetzt aber bleibt ein Großteil der Steuern gleich in der Gemeinde, um verschiedene Projekte vor Ort zu realisieren. Die Gemeinde wird also zukünftig von sich aus wichtige Bildungs- oder Infrastrukturpläne finanzieren können. Doch nicht alles läuft glatt. Sowohl für die klassischen Regierungsbezirke als auch für die vereinigten Territorialgemeinden ist die Dezentralisierungsreform bereits so gut wie beendet. Dennoch mussten die Ukrainer für 119 Kreisräte abstimmen, die eigentlich gemäß der Reform aufgelöst werden sollten. Das Parlament schaffte es jedoch nicht, die entsprechenden Verfassungsänderungen zu verabschieden. Die Kreise, von denen es früher mehr als 500 gab, wurden zwar gezielt vergrößert, die neuen Kreisräte haben allerdings de facto keine Befugnisse. Dadurch sind parallele Machtstrukturen entstanden, obwohl eine davon in der Praxis kaum bedeutend ist.

Unterschiedliche Erfahrungen in Lwiwer Gemeinden

„Insgesamt ist die Dezentralisierung natürlich ein äußerst positiver Prozess“, sagt Stanislav Bezushko, Koordinator der Kyjiwer Gespräche im westukrainischen Lwiw, der sich konkret mit den Gemeinden rund um Boryslaw, Tcherwonohrad, Truskawez und Welyky Mosty beschäftigt. „Es ist aber ein kompliziertes Verfahren, das selten an zwei Orten ähnlich läuft. Klar ist, dass das Interesse an den Kommunalwahlen diesmal riesig war. Das hat zur großen Konkurrenz geführt, die wiederum ihre Vor- und Nachteile hat. Denn auch die üblichen lokalen Eliten haben ein zunehmendes Interesse an den Wahlen. Schließlich gibt es mehr Geld zum Verteilen.“

Nur rund um Welyky Mosty existiert bereits seit 3,5 Jahren eine Vereinigte Territorialgemeinde. In Boryslaw, Tscherwonohrad und Truskawez sind diese dagegen brandneu. Tatsächlich sind die Erfahrungen sehr unterschiedlich. „In Boryslaw ist die Entwicklung sehr überzeugend“, erklärt Bezushko. „Der Stadtrat kommuniziert seit September mit den Orten, die nun ebenfalls zur Gemeinde gehören. Der sogenannte Bürgerhaushalt (auch bekannt als "Teilnahmebudget", das im Rahmen der Dezentralisierung entstandene Gemeindebudget für Projekte, die Bürger selbst vorschlagen – Anmerkung d. Red.) wurde so umgeschrieben, dass es im nächsten Jahr realisiert wird, die Bürger aber schon im September ihre Projekte einsenden durften. Die gegenseitige Integration konnte dadurch früher als erwartet beginnen und wir bei den Kyjiwer Gesprächen haben der Gemeinde gezeigt, welche neue Möglichkeiten es gibt.“ Das hilft auch bei der Realisierung des Projekts „Saubere Stadt Boryslaw“, welches in diesem Jahr zu den Gewinnern des Kleinprojekte-Wettebewerbs der Kyjiwer Gespräche zählte: „Im Stadtrat wurde bereits ausführlich darüber diskutiert, wie im nächsten Jahr etwa die Müllsortierung an den Schulen implementiert werden soll. Wichtig ist, dass im Rahmen der Gemeinde auch die Nachbardörfer berücksichtigt werden. In einem einzigen Dorf könnte ein solches Projekt bestimmt nicht realisiert werden“, meint Bezushko. Das sei ein Riesenvorteil der Dezentralisierung.

Bezushko und Altunina bei der KG-Jahreskonferenz 2019 in Kyjiw. Foto: S. Gulich

In der ältesten Gemeinde von Welyky Mosty gibt es ebenfalls Fortschritte. Unter anderem konnte durch die aufgrund der Dezentralisierung frei gewordenen Gelder die Straßenbeleuchtung verbessert und eine Kernstraße renoviert werden. Die Kyjiwer Gespräche helfen außerdem dabei, öffentliche Anhörungen zu Streitfragen sowie elektronische Petitionen und Beratungen einzuführen. „Es fehlt aber an Aufklärung“, bedauert Bezushko. „Die Gemeinde versteht oft nicht, welche Steuer sie behalten darf. Das führt zu Konflikten.“ Unter anderem hat der Stadtrat über ein Jahr lang den Bürgerhaushalt blockiert und schafft es nicht, sich zu versammeln, um etwa über die elektronischen Petitionen abzustimmen. „Vieles von dem, was wir machen wollen, können wir nun eine Weile nicht realisieren. Der Grund ist eben, dass es in der Gemeinde mehr Geld gibt, und daher hat die lokale Wirtschaft größere Interessen als sonst. Das führt zu politischen Konflikten“, sagt der Lwiwer Koordinator der Kyjiwer Gespräche.

Die größten Probleme gibt es dagegen in der neuen Gemeinde von Tscherwonohrad. Nicht alle Orte wollten zu dieser gehören, es gab Wünsche nach eigenen kleineren Gemeinden. Dort werden emotionale Gespräche zum neuen Lokalbudget geführt, auch weil in der Gemeinde reichlich Bergarbeiter wohnen. Diese wünschen sich bessere Arbeitsbedingungen und streiken regelmäßig. „Wir versuchen, bei diesen Verhandlungen mitzuwirken. Das alles braucht Zeit“, betont Bezushko. „Andererseits gibt es seit 3,5 Jahren ein Jugendzentrum, in anderen Gemeinden werden diese Zentren erst entstehen. Die Lage ist daher äußerst unterschiedlich und wir brauchen bestimmt ein paar Jahre, bis sie in allen Gemeinden vergleichbar ist.“

Tscherkassy setzt auf Jugendprojekte

Ähnlich äußert sich Tatsiana Kavalchuk, Regionalkoordinatorin im zentralukrainischen Regierungsbezirk Tscherkassy. „Auch wir haben sehr unterschiedliche Erfahrungen gemacht“, erzählt Kavalchuk. „Wir haben Gemeinden, die sich sehr früh der Dezentralisierung angeschlossen haben. Gerade in der Gemeinde um Smila gibt es Paradebeispiele wie das Dorf Bilosirja, wo der Bürgermeister eine recht große Unterstützung genießt, weil er die neuen Budgetgelder bisher effektiv einsetzen konnte. An anderen Orten lief die Zusammenschließung der Gemeinden allerdings extrem kompliziert. Das ist durch den großen Einfluss der mächtigen Argarunternehmen insbesondere in Kaniw zu erklären. Aber auch über Kaniw hinaus gehört Tscherkassy deswegen nicht zu den landesweiten Anführern in Sachen Dezentralisierung.“

“Offensichtlich ist, dass die Dezentralisierung mehr Geld im Budget mit sich bringt. Je größer das Budget, desto mehr Möglichkeiten gibt es, die Bürgerprojekte zu realisieren. Das ist sehr gut“, betont Kavalchuk weiter. „In den Gemeinden, die sich freiwillig zusammengeschlossen haben, war die Bürgeraktivität riesig. Es gab Menschen, die entweder dafür oder dagegen waren, das Thema hat die öffentliche Diskussion geprägt. Aber wenn sich die Gemeinde etabliert hat, kommt es zu dem Zeitpunkt, an dem sie von der Anzahl der vorgeschlagenen Projekte überschwemmt wird. Nicht alle kommen damit klar. Und das hängt weniger vom Stand der Dezentralisierung an sich ab, sondern von den Führungspersonen vor Ort. Deswegen schauen wir bei der Unterstützung von Projekten vor allem darauf, wie die Verwaltung mit den Bewohnern und zivilen Initiativen arbeitet. Für unsere Auswahl war weniger der Stand der Vereinigung an sich als vielmehr das Interaktionsniveau mit der Zivilgesellschaft wichtig.“

Auf dieser Basis wurden vier Gemeinden ausgewählt, die von den Kyjiwer Gesprächen vor allem im Bereich der Jugendpolitik unterstützt werden. Die lokalen Teams bestehen aus Menschen zwischen 16 und 35 Jahre, die Jugend und ältere Bevölkerung zum kulturellen Dialog zusammenbringen wollen. Die Stadt Solotonoscha mit fast 30 000 Einwohnern ist dabei ein spannendes Beispiel. Dort wurde die Idee eines Skateparks für die örtliche Jugend erarbeitet, die Kyjiwer Gespräche haben ihrerseits geholfen, für dieses Projekt zu werben. Der Bau wird dank der Kostübernahme durch die Stadt bereits durchgeführt, das wäre laut Kavalchuk vor ein paar Jahren nicht möglich gewesen. „Das Team denkt nun darüber nach, wie man nach einem Einzelprojekt systematische Zusammenarbeit etablieren kann“, berichtet die Koordinatorin. „Auch generell sehen wir, wie in den neuen Gemeinden Jugendräume geschaffen werden. Das ist eine wichtige Wende. Durch die Dezentralisierung wurde es für die Politiker klarer: wenn die Jugend die Region verlässt, zahlt sie vor Ort auch keine Steuer mehr. Dies hat aber nun direkten Einfluss auf die Höhe des Budgets. In dieser Ausgangslage müssen wir in Zukunft einiges machen.“

Tatsiana Kavalchuk, Regionalkoordinatorin in Tscherkassy. Foto: S. Gulich

Vertrauen der Menschen im Donbas zurückgewinnen

Im von Kyjiw kontrollierten Teil des ostukrainischen Donbas ist die Stadt Slowjansk mit etwa 100 000 Einwohnern der Standort der Kyjiwer Gespräche. Die Koordinatorin Olga Altunina spielt selbst eine wichtige Rolle in der Kommunalpolitik und kandidierte neulich für das Bürgermeisteramt. Mit 14,16 Prozent belegte sie den vierten Rang. „Bei uns sind nun einige Dörfer im Rahmen der Dezentralisierung hinzugekommen“, sagt Altunina. „Für die Stadt ist es eigentlich nicht so optimal. Wir müssen ohnehin bis zur Hälfte subventioniert werden, diese Dörfer werden nun zur Last. Wir haben leider die Chance verpasst, effektive Orte wie Mykolajiwka mit ihrem eigenen Kraftwerk für unsere Gemeinde zu gewinnen. Nun müssen wir damit leben. Dies ist aber in erster Linie unser Problem und hat mit der Reform an sich wenig zu tun.“

Darüber hinaus hilft jedoch die Dezentralisierung, das im Donbas sehr hohe Misstrauen gegenüber der Verwaltung zu bewältigen. „Unsere Projekte waren vorerst nicht erfolgreich. Als der Bürgermeister dann die Bürger bat, ihre Ideen für den  Bürgerhaushalt zu schicken, gab es vorerst überhaupt keine Anmeldungen, und zwar über drei Monate hinweg“, berichtet Altunina. „Dann haben wir das übernommen und gleich 36 Vorschläge gekriegt. Umgerechnet rund 15 000 Euro standen zur Verfügung – und plötzlich lief es. Wir haben nun mehr als doppelt so viel Geld zu verteilen und sind mit möglichen Projekten überbucht. Damit kommt auch das Vertrauen der Menschen zurück.“ Altunina findet dennoch, dass im Gegensatz zu Tscherkassy zu wenig gemacht wird, um die Jugend in der Stadt zu halten: „Wir haben keine ordentliche Sportstätte und auch kein Kulturzentrum. Es muss dringend einiges unternommen werden und wir setzen diesbezüglich einige Hoffnungen auf die Dezentralisierung.“

Trotz einiger Rückschläge vor Ort läuft die Reform weiter und bleibt vielversprechend. „Für uns als Kyjiwer Gespräche macht die Dezentralisierung noch nicht viel Unterschied“, fasst Stanislav Bezushko aus Lwiw die bisherigen Erfahrungen zusammen. „Aber wir sind sehr zuversichtlich, dass die Situation sich in ein paar Jahren angleicht und dann kann das Land generell davon stark profitieren.“ Tatsiana Kavalchuk teilt diese Einschätzung: „Wir arbeiten meist mit Neulingen, die durch die Dezentralisierung Chancen bekommen, die sie sonst nicht bekommen hätten. Allein dadurch wird eine völlig neue politische Elite vor Ort entstehen. Dies wird aber natürlich nicht gleich morgen passieren.“

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